Die sozialen Netzwerke sind ein Tummelplatz von Verschwörungsideologen, Antisemiten und »Israelkritikern«. Das zeigt nicht zuletzt eine kürzlich erschienene Analyse der Amadeu Antonio Stiftung. Vor allem die bei jungen Menschen beliebten Plattformen seien »Hotspots für die Verbreitung von antisemitischen Erzählungen«, heißt es in der Studie. Kann es also eine gute Idee sein, wenn sich Juden in einem öffentlichen Online-Forum zu ihrem Judentum befragen lassen? Von Nutzern, die im Zweifelsfall einfach anonym bleiben können?
Ja, dachte sich der Zentralrat der Juden und ließ sich auf ein kleines Experiment ein. Bis Mittwoch vergangener Woche konnten bei gutefrage.net von jedem, der wollte, Fragen rund ums Judentum eingereicht werden, die dann in einem Zeitraum von drei Stunden von Referentinnen und Referenten des Zentralrats beantwortet wurden. Frei nach dem Motto: Was Sie schon immer über Juden in Deutschland wissen wollten, aber nie Gelegenheit hatten zu fragen.
PLATTFORM »Insgesamt wurden etwa 180 Fragen eingereicht«, bilanziert Sven Winter, der für das Community-Management bei gutefrage.net verantwortlich ist. Nach eigenen Angaben ist gutefrage.net mit 1,85 Millionen Nutzern »die größte deutschsprachige Frage-Antwort-Plattform«. Das Forum ist also eine Nutzergemeinschaft, aus der heraus Fragen zu jedem beliebigen Thema gestellt und auch beantwortet werden.
Der Zentralrat antwortete auch auf vorurteilsbeladene Fragen, statt sie zu löschen.
Dabei hätten die User, so Winter, öfter das Bedürfnis artikuliert, nicht nur Einzelpersonen, sondern größere Einheiten wie Organisationen oder Verbände zu befragen. »Deshalb kamen wir auf die Idee, das im Rahmen eines ›Themenspecials‹ mit ausgewählten Akteuren zu ermöglichen«, erläutert er. Und wieso eine Frage-Aktion zum Judentum in Deutschland? »Kultur und Religion gehören zu den meistbesprochenen Themen auf unserer Plattform und das 1700-jährige Jubiläum jüdischen Lebens in Deutschland war für uns der Anlass, uns mit unserer Idee an den Zentralrat zu wenden«, erklärt Winter.
Der Zentralrat der Juden ließ sich von den Unwägbarkeiten sozialer Netzwerke nicht schrecken und sagte zu. Was dann bis zum Stichtag an Fragen zusammenkam, ergab einen interessanten Querschnitt durch die unterschiedlichen Wahrnehmungen jüdischen Lebens in Deutschland.
Ein Themenkomplex, der in vielen Fragen berührt wurde, betraf jüdische Bräuche und Religionsgesetze. Es verwundert nicht, dass insbesondere die Beschneidung großes Interesse auf sich zog. Ob das nicht Körperverletzung sei, fragte ein Nutzer. Der Zentralrat konterte: Im Gegenteil, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt sogar die Beschneidung als hygienische Vorsorgemaßnahme.
Der User »Webclon« wollte etwas sehr Spezifisches in Erfahrung bringen: »Darf man sich in der Synagoge küssen beziehungsweise umarmen?«, fragte er. Da gebe es sehr unterschiedliche lokale Gepflogenheiten, in der Corona-Pandemie sei das aber ohnehin nicht angebracht, so die salomonische Antwort des Zentralrats.
Ein weiterer Forumsnutzer wies bei der Gelegenheit auf die kulturellen Unterschiede innerhalb der jüdischen Welt hin. In Frankreich kursiere zurzeit der Witz, dass, während sich die Sefardim durch die Corona-Maßnahmen das ständige herzliche Umarmen abgewöhnen mussten, bei den eher reservierten Aschkenasim eigentlich alles seinen gewohnten Gang gehe.
MEHRHEITSGESELLSCHAFT Bei den Fragen theologischer Natur – Wie halten es die Juden mit Jesus? Wie stellen sie sich das Jenseits vor? – zeigte sich schnell, wie schwierig es ist, die jüdische Offenheit und Vielstimmigkeit in solchen Dingen einer Mehrheitsgesellschaft verständlich zu machen, die einen überwiegend christlich geprägten Blick auf religiöse Überzeugungen hat. Dass es im Judentum keine eigentlichen Dogmen gibt und daher viele Fragen mit einem Einerseits-Andererseits beantwortet werden mussten, hat sicherlich nicht wenige der Teilnehmenden überrascht. Auch die Frage, was die Zugehörigkeit zum Judentum bedeutet, trieb einige Nutzer um. Kann man aus dem Judentum austreten? Sind Juden eigentlich »weiß«?
Eine offene Fragerunde zum Judentum hätte sicherlich nicht ohne das Thema Antisemitismus auskommen können. In der überwiegenden Mehrheit zeigten sich die Fragesteller besorgt um die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland und wollten etwa wissen, ob sich die Situation durch Corona verschlimmert habe. Andere Beiträge überschritten dagegen selbst die Linie zum Antisemitismus.
Dass das ein Problem werden könnte, war auch den Betreibern von gutefrage.net bewusst, sagt Sven Winter, man habe aber »ein erfahrenes Moderatoren-Team«. Letztlich habe man nur drei von 180 Fragen löschen müssen, einige Fälle wurden zur Einschätzung an den Zentralrat weitergeleitet.
STEREOTYPE Der hat sich in der Regel dafür entschieden, lieber auf die Frage zu antworten, als sie zu löschen. Ein Beispiel: »Warum sind viele Juden so reich?«. Was aus Sicht des Nutzers vielleicht eine arglose Frage ist, gibt ohne Zweifel ein antisemitisches Stereotyp wieder. In der Antwort benennt der Referent des Zentralrats dieses auch klar als »Vorurteil und nicht zutreffend«, ordnet seine Entstehung historisch ein und betont, dass im Gegenteil heute Altersarmut ein weit verbreitetes Problem in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland sei. Hut ab vor so viel Fingerspitzengefühl!
Dass es im Judentum keine Dogmen gibt, hat viele der Teilnehmenden überrascht.
Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, freute sich über die rege Teilnahme an dem Themenspecial auf gutefrage.net: »Viele Teilnehmer haben ein echtes Interesse am Judentum gezeigt. Für uns als Zentralrat war das eine tolle Möglichkeit, über eine Vielfalt von Themen zu informieren. Zugleich konnten wir hoffentlich das ein oder andere Vorurteil oder Klischee ausräumen.«
Während viele Fragen von einem großen Hintergrundwissen über das Judentum geprägt waren, waren andere Ausdruck großer Wissenslücken, teils gefährlicher Art. Das hat wohl auch Daniel Botmann so gesehen: »Es hat sich gezeigt, dass wir weiterhin daran arbeiten müssen, Wissen über das jüdische Leben in Deutschland zu vermitteln.« Dass das auch über soziale Medien gehen kann, hat die Aktion jedenfalls deutlich gemacht.