Mit neun Jahren wurde er von einer Mitschülerin gefragt, ob er jüdisch sei. »Etwas verunsichert leitete ich diese Frage an meine Mutter weiter. Sie antwortete: Natürlich.« Als Zwölfjähriger erfuhr er von der Großmutter, demnächst stehe seine Barmizwa an: »Ehrlich gesagt, habe ich das damals auch nicht ganz verstanden.« In seiner Dankesrede zeigt Shlomo Sajatz (30), einer von drei Rabbinern, die am Dienstag in Berlin ordiniert wurden, welch weiten Weg er bis zu diesem feierlichen Tag zurückgelegt hat. Wie die anderen beiden neuen Absolventen des orthodoxen Rabbinerseminars wurde er in der Ukraine geboren; mit elf Jahren kam er nach Deutschland. Heute ist Sajatz Gemeinderabbiner in Magdeburg.
Es ist die erste Ordination des Rabbinerseminars in der Hauptstadt seit 80 Jahren. Seit 2009 hatten insgesamt 16 Absolventen ihre Smicha (die Berechtigung, das Amt auszuüben) in München, Leipzig, Köln, Würzburg und Frankfurt erhalten. Am Dienstag nun stehen Shlomo Sajatz und seine Studienkollegen Alexander Kahanovsky und Shraga Yaakov Ponomarov in der früheren Privatsynagoge Beth Zion in einem Hinterhof im Stadtteil Prenzlauer Berg.
Gäste Bundes- und Landespolitiker sowie rabbinische Autoritäten haben sich eingefunden – und fast 200 Gäste, so viele, wie der kleine Saal fasst. Die Synagoge in der Brunnenstraße war während der Novemberpogrome 1938 nicht in Brand gesteckt worden; allerdings wurde die Inneneinrichtung zerstört. In dem 2005 wieder eingeweihten Gotteshaus nehmen die Absolventen Glück- und Segenswünsche entgegen. Auch drei Kantoren, Alexander Adler, Doron Burstein und Baruch Chauskin, Absolventen des Instituts für Traditionelle Jüdische Liturgie in Leipzig, werden am selben Tag in ihr Amt eingeführt.
Unter den prominenten Rednern ist Ronald S. Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses und Vorsitzender der Lauder-Stiftung, die zahlreiche jüdische Bildungseinrichtungen in Europa unterstützt – auch das 2009 wiedergegründete Rabbinerseminar zu Berlin, das ursprünglich 1873 von Esriel Hildesheimer ins Leben gerufen wurde und 1938 seine Türen schließen musste.
Vor 30 Jahren, erinnert Lauder, mussten Rabbiner in Deutschland noch aus Israel und den USA importiert werden: »Ich wollte Rabbiner, die hier aufgewachsen sind und ihre Gemeinden verstehen.«
Vor 30 Jahren, unterstreicht der jüdische Mäzen, »hatte ich einen Traum: Ich habe Schulen zuerst in Österreich, Ungarn und Deutschland gegründet, und dann in Ländern in Zentral- und Osteuropa. Kinder sollten etwas über das Judentum, ihre Kultur und ihre Vergangenheit erfahren. Ich wollte den Kindern eine Chance geben, ihr unglaubliches Erbe zu begreifen. Ich wollte, dass Synagogen wieder voll sind – so wie diese hier.« Und Lauder bedankte sich bei der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden in Deutschland für die Zusammenarbeit, durch die sein Traum wahr geworden sei.
Es ist die erste Ordination des Rabbinerseminars in der Hauptstadt seit 80 Jahren.
Von einer wahr gewordenen Vision spricht auch Dayan Chanoch Ehrentreu, Gründungsrektor und Dekan des Rabbinerseminars, der 1938 als Sechsjähriger in Frankfurt am Main Zeuge der Pogromnacht wurde. Der amerikanische Rabbiner Joshua Spinner, Vorstandsvorsitzender des Rabbinerseminars zu Berlin und seit 2010 Vizepräsident und CEO der Ronald S. Lauder Stiftung, habe es gemeinsam mit seiner Frau geschafft, seinen Traum Realität werden zu lassen und in Berlin wieder ein Tora-Zentrum aufzubauen, würdigt Ehrentreu und zitiert einen bekannten Rabbiner aus dem 20. Jahrhundert: »Ich hatte einen Traum, aber ich schlafe nicht.«
Redner Insgesamt neun Redner sind es, die den drei Rabbinern und drei Kantoren alles Gute für ihre berufliche Zukunft wünschen – darunter Außenminister Heiko Maas (SPD), der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Gekommen sind auch die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Petra Pau (Die Linke), US-Botschafter Richard Grenell, Israels Botschafter Jeremy Issacharoff, Azaria und Meir Hildesheimer (zwei Nachfahren des Gründers Esriel Hildesheimer), die Zentralratsvizepräsidenten Abraham Lehrer und Mark Dainow, Zentralratsgeschäftsführer Daniel Botmann und Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.
Dass die zweistündige Veranstaltung nicht langweilig wird, liegt auch daran, dass sich die neun Männer in ihren Reden kurz fassen und unterschiedliche Sichtweisen zur Aufgabe von Rabbinern und Kantoren in Deutschland einbringen – religiöse, politische und spirituelle Gedanken. Doch auch Ablauf und Mischung aus Redebeiträgen und Musik sind stimmig, die Akustik einwandfrei. Vor allem aber zeigen die Kantoren (Chasanim), die im Judentum korrekt als »Baalei Tfila« (Meister des Gebets) bezeichnet werden, was die Seele eines jüdischen Gottesdienstes ist.
Gesang Der Leipziger Gemeinderabbiner und Direktor des Instituts für Traditionelle Jüdische Liturgie, Zsolt Balla, führt mit viel Gefühl und »Ani Maamin« in die Veranstaltung ein und beendet sie mit »Yehi Shalom«. Von den neuen Kantoren sticht besonders Baruch Chauskin mit seiner sonoren Stimme heraus. Höhepunkt ist das Stück »Hineni«, eine Meditation des Kantors an Rosch Haschana, meisterlich intoniert von Joseph Malovany, Oberkantor der Fifth Avenue Synagogue in New York und Ehrendekan des Instituts für Traditionelle Jüdische Liturgie. Und die drei Absolventen stimmen ein.
»Unsere Generation dürstet nach Spiritualität«, sagt Oberkantor Malovany, bevor er die Urkunden an die Kantoren übergibt. Spiritualität sei »die Verbindung zu Gott, zum Göttlichen, die uns mit Sinn und Zweck verbindet, die jenseits unserer selbst liegen. Einer der wichtigsten Wege, um dies in der jüdischen Tradition zu erreichen, ist Tfila, das Gebet.« Wie zuvor Rabbiner Spinner betont auch Malovany, Baalei Tfila seien »keine Sänger, keine Performer, sondern sie führen und inspirieren die Gemeinde, ›den Dienst des Herzens‹ zu tun, wie unsere Weisen das Gebet beschreiben«.
»Unsere Generation dürstet nach Spiritualität«, sagt Oberkantor Malovany.
Als erster Redner begrüßt Doron Rubin, Vorsitzender der Gemeinde Kahal Adass Jisroel, kurz nach elf Uhr vormittags die Gäste. Auf vielen Ebenen, betont Rubin, profitiere seine Gemeinde vom Rabbinerseminar zu Berlin: »Wir erleben die positive Energie der Studenten und auch der Rabbiner, die das Studium abgeschlossen haben – wie beispielsweise Rabbiner Kahanovsky, der unsere Bildungsprogramme leitet und heute feierlich die Smicha erhalten wird.«
Anschließend überbringt Zentralratspräsident Josef Schuster herzliche Glück- und Segenswünsche an die Rabbiner und Kantoren. »In Deutschland gehören die Religionsfreiheit und die persönliche Freiheit zu den Grundrechten. Doch so vehement wie lange nicht muss die jüdische Gemeinschaft derzeit für diese Grundrechte kämpfen!«, sagt er. Freiheit bedeute, »Kippa und Davidstern offen tragen zu können, ohne angepöbelt, angestarrt oder geschlagen zu werden«. Sie bedeute auch, offen als Jude leben zu können, »ohne als Kindermörder, Spekulant oder Raffzahn diffamiert zu werden«.
Militärrabbiner Beifall erntet Schuster für seine Forderung nach einer Berufung von Militärrabbinern, »damit jüdische Ethik auch in der Bundeswehr Einzug hält. Hier appellieren wir an die Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass auch die jüdische Tradition und Kultur bei der Demokratieausbildung der Soldaten einen entsprechenden Platz bekommt«.
Außenminister Maas, der als Nächster spricht, wertet es als Vertrauensvorschuss für Rechtsstaat und Demokratie, dass in Berlin heute wieder die größte jüdische Gemeinde Deutschlands lebt – und Rabbiner ausgebildet und ordiniert werden. Dieses Vertrauen müsse mit allen Kräften verteidigt werden: »80 Jahre nach der Pogromnacht ist das leider wieder so nötig wie schon lange nicht.« Der SPD-Politiker betont: »Unsere Verantwortung, jüdisches Leben zu schützen, sie endet nie.«
Sein Parteikollege, Berlins Regierender Bürgermeister Müller, unterstreicht, der Kampf gegen Antisemitismus sei nur zu gewinnen, wenn er nachhaltig und auf vielen Ebenen geführt werde. Außerdem hebt Müller »die große Tradition moderner Orthodoxie, die hier von Esriel Hildesheimer einst mitbegründet wurde«, hervor. »Sein programmatischer Leitsatz lautet übersetzt etwa: ›Tora-Studium in Verbindung mit der Lebensweise des Landes.‹ Ein Leben, bei dem es kein Widerspruch ist, mit beiden Beinen im gesellschaftlichen Leben zu stehen und dabei seinen Glauben aktiv auszuüben. Das ist bis heute von großer Aktualität«, befindet der SPD-Politiker.
Und Küf Kaufmann, Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzig, sagt in seinem Schlusswort, für eine Zukunft frei von Fremdenfeindlichkeit, frei von menschenfeindlichen Ideologien müsse man »nicht nur kämpfen, man muss auch lernen. Es ist so einfach, man muss nur das richtige Buch zum Lernen haben. Und wir haben so ein Buch«.
Zentralratspräsident Schuster erntete Beifall für seine Forderung nach einer Berufung von Militärrabbinern.
Doch wie geht es nun weiter für die jungen Rabbiner und Kantoren? Alexander Adler promoviert derzeit in Informatik und bleibt Vorbeter in Kassel, Doron Burstein ist Pianist und Vorbeter des Jeschurun-Minjans in der Berliner Synagoge Rykestraße, und Baruch Chauskin setzt seine Arbeit als Kantor in der Jüdischen Gemeinde Osnabrück fort. Rabbiner Alexander Kahanovsky arbeitet weiterhin für seine Gemeinde in Berlin, und Rabbiner Shraga Yaakov Ponomarov als Assistenzrabbiner in Basel.
Rabbiner Shlomo Sajatz kehrt in seine Gemeinde in Magdeburg zurück. Zum Schluss seiner kurzen Dankesrede in der Berliner Beth-Zion-Synagoge erinnert er sich an seine Schul- und Ausbildungszeit an der Jüdischen Oberschule und dem Rabbinerseminar: »Besonders geprägt wurde ich, als ich in der neunten Klasse einen Studenten der Lauder-Jeschiwe kennenlernte, und aus einer einfachen Einladung zum Schabbat wurden sechs Jahre aktiven Studiums an der Lauder-Jeschiwe in Berlin. Nicht ganz unbeteiligt war Rabbiner Spinner und seine Überzeugungskraft meiner Mutter gegenüber.«
Die Rabbinerausbildung, sagt der 30-Jährige, habe er aus tiefster Überzeugung begonnen, »dass nicht jedes jüdische Kind bis zum neunten Lebensjahr warten sollte, bis es von seinem Jüdischsein erfährt, und nicht bis zu seinem zwölften Jahr, bis es versteht, was eine Barmizwa ist«.