Porträt der Woche

Durch die Kinder zurück ins Leben

Erna de Vries hat die Pogrome in der Pfalz erlebt, war in Auschwitz und ist dennoch in Deutschland geblieben

von Till Schmidt  05.11.2018 15:44 Uhr

»Wenn alte Braune heute behaupten, sie hätten nichts gewusst, hätten nichts gesehen, wird mir ganz übel«: Erna de Vries (95) aus Lathen Foto: Till Schmidt

Erna de Vries hat die Pogrome in der Pfalz erlebt, war in Auschwitz und ist dennoch in Deutschland geblieben

von Till Schmidt  05.11.2018 15:44 Uhr

Mit meinen 95 Jahren fällt mir das Hören und das Lesen auf dem iPad schwer. Doch zum Glück kommen meine beiden Töchter oft aus Osnabrück angereist. Sie kümmern sich liebevoll um mich, genauso wie meine Betreuerin Alina. Aber ich sitze nicht herum und drehe Däumchen.

Vor vier Jahren wurde mir immerhin das Bundesverdienstkreuz verliehen. Und ich bin Ehrenbürgerin von Lathen – der Platz vor dem Rathaus, zwei Schulen und unser früheres Wohnhaus sind nach mir benannt: Erna de Vries.

Eigentlich stehe ich nicht gern im Mittelpunkt, aber es ist mir wichtig, meine Geschichte zu erzählen. Seit mehr als 20 Jahren besuche ich regelmäßig Schulen. Angefangen hat das in Kaiserslautern, wohin mich Ende der 90er-Jahre ein Historiker einlud. Dort wurde ich auch als Erna Korn geboren. Doch als meine Heimat kann ich es nicht bezeichnen – zu böse sind die Erinnerungen an die Stadt, in der wir überall, auf der Straße und in der Schule, angefeindet wurden.

WARNUNG An den 9. November 1938 erinnere ich mich genau. Am frühen Morgen des 10. November wurde unsere Familie von einem ehemaligen Angestellten gewarnt, der auf seinem Weg durch die Stadt Zeuge der dortigen Ausschreitungen geworden war. Trotzdem machte ich mich wie gewohnt auf den Weg zur Arbeit in die jüdische Wäschenäherei.

Nach kurzer Zeit kamen bewaffnete SA-Trupps. Sie befahlen allen Angestellten, das Gebäude zu verlassen und sich in einer Reihe aufzustellen. Die jüdischen Angestellten mussten vortreten. Aus Sorge um meine Mutter verweigerte ich den Befehl. Stattdessen lief ich nach Hause und berichtete von meinen Erlebnissen. Von dort flohen meine Mutter und ich zum Grab meines Vaters auf dem christlichen Friedhof, wo wir hofften, in Sicherheit zu sein. Nach kurzer Zeit kehrte ich gegen den Willen meiner Mutter zurück, da ich wissen wollte, was dort geschieht: Ich musste miterleben, wie mein Zuhause vom Mob verwüstet wurde.

Wir waren hilflos – wie mehr oder weniger alle Juden. In diesem Moment bin ich eigentlich erwachsen geworden, denn ich wusste: Wir sind jetzt vogelfrei; jeder kann mit uns umgehen und umspringen, wie er will.

Nachdem sich der Mob zurückgezogen hatte, kehrte ich erst zum Friedhof und danach zu unserem Haus zurück. Doch ein Beamter der Kriminalpolizei klopfte an der Tür und forderte uns auf, die Stadt noch am selben Abend zu verlassen. Kaiserslautern sollte »judenfrei« werden. Wir flohen zu Verwandten nach Köln. Doch schon Ende November ging meine Mutter nach Kaiserslautern zurück und setzte das Haus notdürftig wieder instand. Ich folgte ihr einen Monat später.

NACHBARN Kaiserslautern habe ich hinter mir gelassen. Nun bin ich Emsländerin und lebe seit fast 70 Jahren in Lathen. Hätte mein Mann Josef mit Eisbären gehandelt, ich wäre mit ihm sogar nach Grönland gegangen. Auch er hatte verschiedene Lager überlebt. Kennengelernt haben wir uns 1946 in Köln. Josef wohnte damals für ein paar Tage bei Verwandten von mir. Ob ich ihm die Stadt zeigen möchte, fragte er damals. Da ich Köln aber kaum kannte, verneinte ich. »Wir können sie ja auch zusammen kennenlernen«, entgegnete er – so wie Männer das nun einmal machen. Wenig später haben wir geheiratet und sind hierhergezogen, in die Stadt, in der mein Mann auch aufgewachsen ist.

In Lathen zu leben, gefällt mir inzwischen, doch ein Gefühl hat mich nie verlassen: abgelehnt, nicht gewollt zu sein. Ich würde nie ohne Einladung zu den Nachbarn gehen; man muss offen auf mich zugehen, ich selbst kann das nicht mehr.

Eigentlich wollte ich Ärztin werden, doch unter den Nazis durfte ich nicht einmal das Abitur machen. In Köln gab es ein schönes jüdisches Krankenhaus, dort hätte ich stattdessen eine Ausbildung zur Krankenpflegerin machen können. Aber mit noch nicht einmal 18 Jahren war ich dafür noch zu jung. So begann ich 1939 in einem jüdischen Seniorenheim eine Hauswirtschaftslehre.

Dort kam ich auch mit vielen jüdischen Bräuchen und Regeln in Kontakt, die ich von zu Hause gar nicht so wirklich kannte, denn meine Mutter hat ihr Judentum so gelebt wie mein Vater sein Christentum: wenig religiös. Unser Haushalt wurde nicht koscher gehalten, aber an den Hohen Feiertagen gingen wir in die Synagoge, und ich hatte auch jüdischen Religionsunterricht. In der Speditionsfirma meiner Eltern habe ich mitgeholfen, vor allem nach dem frühen Tod meines Vaters – bis uns 1935 die Lizenz entzogen wurde und wir vom Ersparten leben mussten.

AUSBILDUNG Über meine Jugendfreundin, die aus einem sehr religiösen Elternhaus kam, habe ich vieles am Judentum kennengelernt, was mir heute noch wichtig ist. Ich kann es mir nicht erklären, aber mich hat das damals alles sehr angezogen. Dazu kam das jüdische Seniorenheim, in dem wir den Schabbat streng eingehalten hatten. Kochen durften wir nur noch vegetarisch, weil das Schächten schon verboten war.

Pünktlich mit 18 Jahren habe ich 1941 im Krankenhaus eine Ausbildung zur Krankenschwester angefangen. Die Nächte verbrachten wir wegen der Bomben im Keller, wohin alle Patienten gehen mussten, die noch laufen konnten. Der Krieg hatte bereits begonnen, und die Nazis hatten mich zur »Halbjüdin« gemacht.

Im Krankenhaus behandelten wir auch Menschen, die den Konzentrationslagern durch Suizid entkommen wollten, überlebten und dann verletzt zu uns kamen. Nachdem ich im Krankhaus von den Deportationen erfahren hatte, gab ich die Ausbildung auf und beschloss, zurück zu meiner Mutter nach Kaiserslautern zu gehen. Wenn man zusammen deportiert wurde, könne man einander helfen, dachte ich in Sorge um meine Mutter. Im Juni 1943 hielt dann ein Auto vor unserem Haus, um meine Mutter abzuholen. Ich musste die Nazis anflehen, sie begleiten zu dürfen.

SCHIKANEN Meine Mutter ist in Auschwitz geblieben. Sie hat mir immer wieder mitgegeben: »Du wirst überleben, denke daran und erzähle, was man mit uns gemacht hat.« Ohne weitere Familienmitglieder standen wir alleine in der Welt, immer wieder sagte sie zu mir, 19 Jahre alt: »Du wirst überleben.«

Nach vier Wochen im Quarantäne-Block, in dem wir ausgekochtes Gras tranken und Kartoffelschalen aßen, mussten wir Zwangsarbeit leisten. Wir wurden schikaniert und geschlagen. Die lauten Befehle und das Geschrei sind mir besonders in Erinnerung geblieben.

Als meine Mutter und ich tagelang und vollkommen ohne Sinn und Zweck Schilf aus einem trüben Tümpel fischen mussten, standen wir jedes Mal bis zur Brust im Wasser. Wir wurden nie richtig trocken, was zusammen mit den Schnitten durch das Schilf zu eitrigen Entzündungen an meinen Beinen führte. Ich wurde aussortiert und in den Todesblock geschickt.

Ich wusste, was mit mir passieren sollte. Mit meinem Tod hatte ich mich bereits abgefunden. Unerwartet befahl ein SS-Mann, die Nummer 50462 sollte sich melden. »Du hast mehr Glück als Verstand«, sagte er und schubste mich in eine andere Baracke. Dort erzählte mir eine Frau von einem Dekret. Himmler hatte befohlen, »Halbjuden« sollten von nun an nicht mehr vergast werden. Ich wurde dann als Zwangsarbeiterin in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Dafür war ich den Nazis gerade noch gut genug.

GEBURTSTAG Später in Ravensbrück musste ich für Siemens Mikrofone zusammen- und einbauen. Auch dort hatten wir keine Namen. Wurden hin- und hergeschoben, kaum mit einer Möglichkeit, überhaupt zu handeln. Einmal aber gelang mir das doch. An meinem 20. Geburtstag sollte ich eine riesengroße Walze ziehen. »Heute nicht«, nahm ich mir vor – und bin für einen kurzen Moment untergetaucht und wurde nicht entdeckt. Niemand im Lager hat mich verraten.

In Ravensbrück erfuhr ich, dass meine Mutter in Auschwitz vergast worden ist. Diese Teile meiner Biografie erzähle ich auch vor Schulklassen ohne Auslassungen, vorausgesetzt, die Jugendlichen sind alt genug. Es ist nicht nur meine Geschichte, sondern sie steht auch für die von Millio­nen anderen, die sie nicht mehr erzählen können. Den Schülern beantworte ich alle Fragen – nur nicht zum Nahostkonflikt, was ich die Moderatoren bitte, immer gleich am Anfang deutlich zu machen. Denn das ist ja schließlich nicht das Thema meiner Berichte.

Einmal habe ich auch vor Gericht ausgesagt: in Detmold, im Prozess gegen den SS-Obersturmführer Reinhold Hanning, der in Auschwitz Wachmann war. Auch wenn viele Täter zu alt sind, um ihre Strafe abzusitzen, sind die Gerichtsprozesse wichtige Zeichen. Die Täter sollen wissen, dass sie nicht ungestraft davonkommen, und auch die Jugendlichen sollen sich dessen bewusst sein. Interessanterweise fragen meine jungen Zuhörer nur selten danach, was aus den früheren Wachmännern und Kommandanten geworden ist.

Nach der Räumung des Lagers Ravensbrück habe ich mich zusammen mit den anderen Insassen bei einem Todesmarsch bis Mecklenburg geschleppt, wo wir von alliierten Soldaten befreit wurden. Mit meinen drei Freundinnen Ruth und Esther habe ich mich bei Banzkow bettelnd durchgeschlagen. Die beiden Schwestern sind sobald wie möglich nach Palästina ausgewandert. Ich selbst konnte bei einer Bauernfamilie unterkommen, bis ich wieder genügend Kraft hatte, um nach Köln zu gehen.

FAMILIE Lea, Ruth und Karl – unsere Kinder haben uns ins Leben zurückgeholt. Auch ihnen haben wir unsere Geschichte erzählt, manchmal auch, indem wir schlicht vergessen hatten, dass sie mit im Raum waren und mir und meinem Mann bei den Gesprächen zuhörten.

Wenn jüdische Freunde zu Besuch waren, haben wir schon nach wenigen Minuten über unsere Erfahrungen geredet. Bei unseren Enkelkindern haben wir darauf geachtet, nur auf ihre Fragen zu antworten und sie dadurch Stück für Stück und altersgerecht an unsere Geschichte heranzuführen. Wenn alte Braune heute behaupten, sie hätten nichts gewusst, hätten nichts gesehen, wird mir ganz übel.

Mein Mann ist 1981 gestorben. Wir haben immer in Lathen gelebt, mein Mann war hier sehr, sehr stark verwurzelt. Einmal wären auch wir fast nach Israel ausgewandert. Das erste Haus in Lathen war schon verkauft, Baupläne für ein neues Haus in Israel lagen bereit. Unsere Kinder Karl und Lea studierten damals in Israel und warteten schon auf uns. In letzter Minute entschieden wir uns gegen die Alija: Mein Mann konnte dem Emsland einfach nicht den Rücken kehren, trotz allem, was man ihm dort angetan hatte, und obwohl er insgesamt sechs Jahre in Neuengamme, Sachsenhausen und Auschwitz gelitten und seine gesamte Familie verloren hatte.

FREUNDINNEN Bei einem Israelbesuch Anfang der 60er-Jahre habe ich zufällig meine Freundinnen Esther Mandel und Ruth Weiss, mit denen ich zusammen die Befreiung erlebte, wiedergetroffen. Unsere Beziehung war bis zum Tod der beiden sehr eng. Nach dem Tod meines Mannes bin ich häufig nach Israel gereist, meistens zweimal im Jahr zu Pessach und zu Rosch Haschana.

Lea wohnte dort für einige Jahre, Karl hat mit seiner Familie eine neue Heimat gefunden. Um nach Israel zu fliegen, bin ich nun zu alt, aber regelmäßig bekomme ich von meinen Lieben Besuch. Wenn ich in meinem Wohnzimmer sitze, sehe ich mir auf meinem iPad häufig mein Lieblingsfoto an: ein Bild von meinen Enkeln. Von Rebecca und David, Iris und Alon, Dan und Joel.

Aufgezeichnet von Till Schmidt

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