Seit Tagen starre ich stumm auf den Bildschirm meines Handys, sehe den Namen Nora (Landesverband Dresden) und stelle fest, dass ich diesen Namen für immer aus dem Speicher meines Handys löschen muss … MUSS!!! Eines Tages werde ich es tun. Aber ich werde deinen Namen, Nora, aus meinem Gedächtnis nie löschen.
In den frühen 90er-Jahren kreuzten sich unsere Wege. Wir waren beide etwas über 40 Jahre alt. Wir waren beide voller Energie, Inspiration und Bereitschaft, denjenigen beizustehen, die damals die Gemeinden gelenkt haben, die Exil und Konzentrationslager hinter sich hatten. Die »alten Männer« von damals lehrten uns Geduld und Toleranz. Wir lernten von den »Alten«, und du brachtest den »Alten« den Innovationsgeist näher, den du selbst besaßest.
Du hast mühsam versucht, die Scherben der jüdischen Tradition, die nach der Kristallnacht und den Schrecken des Holocaust noch überall verstreut waren, zu einem Ganzen zusammenzufügen, um die Wiedergeburt eines vollblütigen jüdischen Lebens im schönen Sachsen zu unterstützen. Davon hast du geträumt, und du hast viel dafür getan. Du warst dabei unermüdlich und geduldig.
»Ja, ja … Wir sind verschieden«, sagte Nora, und es stimmte
Die 90er-Jahre brachten Menschen jüdischen Glaubens aus verschiedenen Regionen und Kulturen der ehemaligen Sowjetunion unter ein Dach. Unter diesen Menschen war auch ich. Dein einladendes Lächeln, Nora, half mir zu glauben, dass wir eine Familie sind.
Trotzdem habe ich mich manchmal unwohl gefühlt. »Ja, ja … Wir sind verschieden«, sagte Nora, und es stimmte. Aber zugleich sagte sie: »Wir sind Menschen mit demselben Schicksal«, und auch das war wahr. Die Romane, die über die Schicksale unserer Familien geschrieben werden könnten oder geschrieben worden sind, unterscheiden sich vielleicht nur durch die Namen ihrer Helden. Und manchmal unterscheiden sie sich überhaupt nicht!
Wir lebten in verschiedenen Städten, wir waren Mitglieder verschiedener jüdischer Gemeinden, aber wir waren eine Familie. Ich glaube, du gabst uns allen dieses Gefühl – sowohl den »Einheimischen« als auch den »Zugewanderten«. Als Nora Vorsitzende des Vereins Hatikva war, lud sie mich ein, Auszüge aus meinem und Bernd-Lutz Langes Programm »Fröhlich und Meschugge« – sächsischer und jüdischer Humor – vorzustellen. Wir haben viel zusammen gelacht. Dies war der Beginn unserer Freundschaft, die sich zu einer engen Zusammenarbeit entwickelte.
Wir haben viel zusammen gelacht. Dies war der Beginn unserer Freundschaft
Als Nora Goldenbogen den Vorsitz des Landesverbandes Sachsen der Jüdischen Gemeinden übernahm, wurde ich, wie schon zuvor unter Achim Aris, mit der Rolle ihres Stellvertreters betraut. Sie hat sich bis zur letzten Minute ihres Lebens dafür eingesetzt, dass in der sächsisch-jüdischen Familie Vernunft und Verantwortung für unsere jüdische Zukunft herrschten.
»Weißt du«, pflegte sie zu sagen, »wir sind wie ein Gefäß mit kochendem Wasser. Wir müssen es vorsichtig tragen, damit wir uns selbst nicht mit dieser heißen Mischung verletzen oder andere damit verbrühen.«
Liebe Nora, wir übernehmen dieses Gefäß! Uns brennen die Hände, aber wir versprechen dir, dass wir es behutsam tragen und es nicht aus den Händen gleiten lassen.
Der Autor ist Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig.