Nachruf

»Du fehlst schon heute«

Peggy Parnass war Gerichtsreporterin, Journalistin und Künstlerin. Unsere Autorin Sharon Adler nimmt Abschied von ihrer langjährigen Freundin. Ein letzter Brief

von Sharon Adler  21.03.2025 10:07 Uhr

»Süchtig nach Leben« – Peggy Parnass’ Biografie erschien 1990. Sie schrieb über Traumata in der Kindheit, Liebhaber und Politisches. Foto: Sharon Adler

Peggy Parnass war Gerichtsreporterin, Journalistin und Künstlerin. Unsere Autorin Sharon Adler nimmt Abschied von ihrer langjährigen Freundin. Ein letzter Brief

von Sharon Adler  21.03.2025 10:07 Uhr

Liebe Peggy, die Nachricht von deinem Tod hat mich tief getroffen. Ich bin so traurig, dass du nicht mehr bei und unter uns bist, und gleichzeitig unendlich dankbar und glücklich für jeden Augenblick, in dem wir über all das sprechen konnten, was uns beide bewegt hat, dankbar für deine persönlichen Lebenserinnerungen, die du offen mit mir geteilt hast, dankbar für deine politischen Forderungen für Gegenwart und Zukunft.

Peggy, du warst so vieles: Gerichtsreporterin, Kolumnistin, Schriftstellerin, Übersetzerin, Schauspielerin, Aktivistin und Pazifistin, ein wunderbarer Mensch.

Peggy, ich danke dir für deine Texte, Kolumnen, Monografien und autobiografisch geprägten Anthologien (Unter die Haut, 1983, Kleine radikale Minderheit, 1985, Süchtig nach Leben, 1990, und Mut und Leidenschaft, 1993), mit denen du maßgeblich dazu beitrugst, das gesellschaftspolitische Stimmungsbild Deutschlands zu dokumentieren. Für deine punktgenauen Beobachtungen über das (meist schwierige) Leben in Deutschland, über die (meist problematische) Politik, natürlich über Antisemitismus (der nie weg war), natürlich über die Rechten und die Geschichtsvergessenen (!), auch über die Spekulanten, und nicht zuletzt die Frauenhasser. Danke dafür, dass du mir von deinem Leben vor und nach dem Überleben erzählt hast. Von der Zeit, bevor deine Mutter dich und deinen jüngeren Bruder Gady (»Bübchen«), gerade noch rechtzeitig und in einem Akt der Verzweiflung, 1939 mit dem Kindertransport nach Schweden verschickt hat. Du hast mir erzählt, dass du im Exil in Schweden versucht hast, davon zu berichten, was in Deutschland geschieht. Vergeblich: »Niemand hat mir geglaubt.«

Du warst eine kritische Stimme, die Wahrheiten aufdecken wollte.

Mit Tränen in der Stimme hast du davon gesprochen, wie du erfahren hast, dass deine Eltern 1942 in Treblinka ermordet wurden, und mit sehr viel Wut davon, wie du erleben musstest, wie die deutsche Bürokratie die Verurteilung von NS-Verbrechern systematisch verhinderte.

Du hast dich politisiert, Peggy, als du gerade dabei warst, als Schauspielerin in Film- und Fernsehproduktionen erfolgreich durchzustarten. Als ich dich fragte, wie es dazu kam, dass du dich dafür entschiedst, stattdessen für ein schmales Honorar als Gerichtsreporterin zu arbeiten, antwortetest du: »Ich dachte, ich könnte die Täter zu fassen kriegen.«

Ach, Peggy, deine Enttäuschung und dein Zorn darüber, dass genau das nicht passierte, kann ich gut nachvollziehen. In den ganzen langen 17 Jahren intensiver Prozessbeobachtung wurden vor allem Delikte wie Diebstahl, Betrug, Hochstapelei, Heiratsschwindel, Korruption und politische Prozesse verhandelt. Dem Massenmord an den Jüdinnen und Juden Europas bist du im Gerichtssaal jedoch nur selten begegnet.

Deine Gerichtsreportagen für »Konkret« aus den 17 Jahren Prozessbeobachtung erschienen 1979 in Buchform unter dem Titel Prozesse 1970 bis 1978: »Die Prozesse, die ich sehen wollte, sind nicht geführt worden. Ich dachte anfangs ja, dass da lauter NS-Prozesse stattfinden würden. Es waren in all den Jahren von insgesamt 500 aber nur drei Prozesse.

Bis heute sind die meisten Nazis nicht verurteilt worden und konnten jahrzehntelang in Deutschland, in Argentinien, den USA und überall auf der Welt unbehelligt weiterleben. Es interessierte weder die Justiz noch die Allgemeinheit. Alle waren der Auffassung, es sei doch schon so lange ›vorbei‹. Es hieß dann: ›Was sollen wir jetzt noch machen?‹ Oder: ›Mein Gott, wir haben wirklich genug gemacht.‹ Und: ›Ach, wir haben doch auch gelitten.‹«

Peggy, ich bewundere dich und deinen Mut. Von einer Gerichtsreporterin wird vor allem erwartet, Daten und Fakten verpflichtet zu sein, du jedoch warst vor allem eins: eine kritische Beobachterin, die weder Anspruch auf Neutralität noch Objektivität erhebt, sondern eine unbequeme Stimme sein wollte, eine, die Wahrheiten aufdeckt. Eine, die persönlich betroffen war, die jedes ihrer Bücher ihren ermordeten Eltern widmete und an sie erinnerte. Zu deiner unverwechselbaren Arbeitsweise gehörte deine messerscharfe Sprache, mit der du auch dokumentiert hast, wie höflich und zuvorkommend man dem »Mörder von Warschau«, Ludwig Hahn, im Gerichtssaal begegnete. »Die Richterin der Richter« nannte dich die Zeitschrift »Stern«, und seit deiner Auszeichnung mit dem Fritz-Bauer-Preis 1980 wurdest du als »der weibliche Fritz Bauer« bezeichnet. Zu Recht, liebe Peggy!

Dein Lachen war einfach unwiderstehlich!

Wir hatten uns so viel zu erzählen, Peggy. Sprachen über deine (ermordeten) Eltern. Deinen (überlebenden) kleinen Bruder. Israel. Die (immerwährende) Liebe, deine (meist unbrauchbaren) Lover. Dein (geliebtes) Kind. Deine (grandiosen) Bücher, deine (unermüdliche, wichtige, mutige) Arbeit. Deine (zumeist glückliche) Kindheit. Deinen (grenzenlosen) Schmerz. Dein Glück. Das Trauma. Telefoniert haben wir oft, auch während der Corona-Zeit, sprachen über die Zeit der »Gelben Sterne« auf der Kleidung von Menschen, die entweder keinen Schimmer hatten oder sich nicht dafür interessierten, wofür die stehen; die sich darüber beschwerten, wie sehr sie diskriminiert werden in dieser Zeit. Nach allem, was du durchgemacht hast, konntest du über diese Täter-Opfer-Umkehr laut lachen und hast mich mit deinem Lachen angesteckt. Überhaupt haben wir viel miteinander gelacht. Peggy, dein Lachen war einfach unwiderstehlich!

Deine Stimme, Peggy! Wusstest du um die Wirkung, die du auf andere hast? War dir bewusst, wie wichtig du warst, für deine Freundinnen, für die Menschen in diesem Land, denen die Demokratie am Herzen liegt, die dafür aufstehen, für die »Nie wieder« keine Phrase ist? Für die junge Generation der Jüdinnen und Juden von heute? Deine Sprache, Peggy! Du warst die Meisterin der Worte, konntest wie keine andere lakonisch und gleichzeitig glasklar formulieren, wo andere drumherum redeten.

Etwa dann, wenn es darum ging, wie nach 1945 noch immer die Mehrzahl der Justizbeamten in Deutschland ehemalige Nazis waren. Chronistin der rechtsextremistischen und antisemitischen Attentate in Deutschland, deren Aufklärung von der Justiz und den Behörden verschleppt wurde. Hast über die neonazistischen Aktivitäten der paramilitärischen Wehrsportgruppe Hoffmann berichtet, über die Ermordung von Shlomo Lewin und Frida Poeschke, über den ersten rassistischen Anschlag im vereinten Deutschland im schleswig-holsteinischen Mölln, sowie über den Brandanschlag in Solingen vom Mai 1993. Hast zur »Solidarität with the Roma Community« aufgerufen, gegen den Paragrafen 218 demonstriert. Du warst streitbare Aktivistin, immer da, wo es wichtig war, gegen soziale Diskriminierung zu kämpfen.

Peggy, bei unserem allerersten Gespräch warst du vor allem daran interessiert, wer ich bin, wie meine Familie überlebt hat. Wie die Stimmung in Berlin ist, wolltest du von Hamburg aus wissen, woran ich arbeite und warum. Du wolltest buchstäblich ALLES von mir wissen, dabei wollte doch ich ein Interview mit DIR führen. Bis es dazu kam, habe ich alles gelesen, was du jemals geschrieben hast, mit zig Menschen gesprochen, denen du auf deinem Weg begegnet bist.

Und immer, wenn ich deinen Namen erwähnt habe, etwa, als ich auf der Suche nach deinen Büchern war, die es bis auf das letzte Buch Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete, das du mit der brasilianischen Künstlerin Tita do Rego Silva gemacht hast, nur antiquarisch zu erwerben gab, stieß ich auf Menschen, die du tief beeindruckt hast.

Die Verlagsmitarbeiterin, mit der ich sprach, erklärte stolz, dass du sie dazu inspiriert hättest, Jura zu studieren. Als ich dir, Peggy, davon erzählte, freutest du dich wie ein Kind.

Peggy, du hattest eine große und unbändige Freude am Leben, und trugst doch auch die Trauer und die Wut immer mit dir, du hast über Mut und Leidenschaft geschrieben, aber auch über Angst. Die Angst deiner Tante Flo, die im Widerstand war, die malte, weil die Erinnerungen sie nicht schlafen ließen. Die so gern eine bekannte Künstlerin sein wollte, aber nicht wollte, dass du über sie schreibst, aus Angst »vor den Rechten, vor den Linken, vor den Leuten«. Die KZ-Nummer auf ihrem linken Arm ist die 74559.

Man hat dich beschimpft, man hat dich bedroht, man wollte nicht, dass euer Dokumentarfilm Von Richtern und anderen Sympathisanten mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet wird. Gegen die Nominierung gab es »scharfe Einwände« aus dem Bundesinnenministerium.

Der Film »diffamiere den Berufsstand der Juristen, verunglimpfe die Bundesrepublik« und sei somit »keinesfalls preiswürdig«, hieß es da. Peggy, du hast dich trotzdem nicht beirren lassen. Nie. Und du warst nicht allein, viele hast du mitgezogen mit deinem unwiderstehlichen Charme, deiner Chuzpe, deiner absoluten Geradlinigkeit. Süchtig nach Leben heißt eines deiner Bücher.

Ich würde jetzt furchtbar gern mit dir telefonieren.

Der Titel ist Programm. Peggy, du warst doch erst 97 Jahre alt; für mich bist du unsterblich. Wie mir geht es allen, die dich kennengelernt haben.

Du warst – und bist – für alle ein Vorbild, ein strahlender Stern, in hellen und in düsteren Zeiten. Unbeirrbar. Mutig. Laut. Sehr direkt und immer ehrlich. Witzig. Klug. Kein Adjektiv ist zu groß für dich.

Oh, Peggy. Du fehlst schon heute. Wer, wenn nicht du, kann die Ignoranten vor dem Vergessen bewahren? Peggy, ich würde jetzt furchtbar gern mit dir telefonieren. Peggy, Baruch Dayan HaEmet. Sicher bist du gerade auf dem Weg zu Mutti, zu Pudl und Gady und schaust von dort auf uns. Kuss an dich und die Deinen!

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