Ministerpräsident Stephan Weil blickt in die Vergangenheit und nennt Zahlen: »Als Hannover nach dem Zweiten Weltkrieg befreit wurde, lebten in dieser Stadt gerade einmal zwei Handvoll Menschen jüdischen Glaubens.« Daran gemessen sei die Vielfalt und Vitalität des jüdischen Lebens im heutigen Niedersachsen ein Wunder, sagte er in einer Rede vor Gästen aus aller Welt.
Der Anlass war bedeutend: In der Liberalen Jüdischen Gemeinde »Etz Chaim« in Hannover wurden am vergangenen Donnerstag zwei Rabbiner und ein Kantor feierlich in ihre Ämter eingeführt. Alle drei sind Absolventen des liberalen Abraham Geiger Kollegs, das zur Universität Potsdam gehört und unter anderem von der Kultusministerkonferenz der Länder gefördert wird. Nach der Gründung des Kollegs im Jahr 1999 wurde die erste Ordination 2006 in Dresden gefeiert, danach vier weitere in anderen Landeshauptstädten und Gemeinden. Bei der sechsten Ordination war nun erstmals Niedersachsen Gastland.
Rabbiner Walter Homolka, Gründer und Rektor des Abraham Geiger Kollegs, erläutert: »Die Konstruktion unseres Rabbinerseminars war von vornherein europäisch angelegt. Das bedeutet, dass unsere Absolventen auch in anderen Ländern tätig werden, zum Beispiel in Großbritannien, Ungarn und Polen. Zukünftig bilden wir auch Rabbiner für Moskau aus, mit einem Studienabschnitt dort und einem in Potsdam.«
Kosmopoliten Auch die drei neuen Kandidaten sind Kosmopoliten. Lior Bar-Ami (30) ist in Deutschland geboren und hier sowie in den USA aufgewachsen. Seine Familie ist deutsch-schweizerisch, er spricht fünf Sprachen und fühlt sich durch seine internationale Erziehung auf der ganzen Welt zu Hause. Vor seiner Ausbildung in Potsdam hat er Literatur- und Kulturwissenschaft und Romanistik studiert. Ein Jahr verbrachte er an der Conservative Yeshiva in Jerusalem. Während seiner Rabbinerausbildung absolvierte er Praktika in Göteborg, Stettin, Göttingen, Konstanz, Jerusalem, Rom, Toulouse und Berlin.
Vor Kurzem ist er nach Frankreich umgezogen, um als Rabbiner der Communauté Juive Libérale de Toulouse seine erste feste Stelle anzutreten – allerdings nur eine halbe. Bar-Ami hat noch eine als Gemeinderabbiner in Wien und wird zwischen beiden Städten pendeln. Das würde ihm jedoch nichts ausmachen, meint er, getreu seinem Ordinationsspruch: »Nähme ich die Flügel der Morgenröte und ließe mich nieder am äußersten Ende des Meeres, auch dort würde Deine Hand mich leiten und Deine Rechte mich fassen« (Psalm 139, 9–10).
Rabbiner Ariel Pollák (27) kehrt nach Aufenthalten in Israel und Deutschland in seine Heimatstadt Budapest zurück, um dort künftig im Auftrag der European Union for Progressive Judaism für die liberale jüdische Gemeinschaft tätig zu sein. Er stamme aus einer nicht besonders religiösen Familie, berichtet er, aber schon als Kind hatte er den Spitznamen »Rabbi«, weil er sich so sehr für Religion interessierte und schon früh in der religiösen Jugendarbeit engagierte. Mit seiner Berufung zum Rabbiner habe sich somit für ihn ein wichtiges Lebensziel erfüllt. Dass er nie daran gezweifelt hat, auf dem richtigen Weg zu sein, belegt sein Ordinationsspruch: »Gedenke an Ihn in allen deinen Wegen, so wird Er dich recht führen« (Sprüche 3,6).
Bassbariton Der 44-jährige Assaf Levitin wird als neuer Kantor die Liberale Gemeinde in Hannover musikalisch leiten. Er sagt, er habe dreifachen Grund zum Feiern: Der Tag seiner Investitur ist auch sein erster Arbeitstag in Hannover und nach dem jüdischen Kalender sein Geburtstag. Levitin ist in Israel geboren, aber lebt und arbeitet schon viele Jahre in Deutschland.
Der Bassbariton ist ausgebildeter Konzert- und Opernsänger und war bereits als Komponist, Arrangeur, Dirigent, Lehrer und Kantor tätig. Während seines Studiums gründete er das Ensemble »Die Drei Kantoren«, und seit 2015 leitet er den Berliner »Shalom-Chor«. Sein Investiturspruch könnte passender nicht sein: »O Herr! Öffne meine Lippen, und mein Mund verkünde Dein Lob« (Psalm 51,17). Assaf Levitin engagiert sich sehr im interreligiösen und interkulturellen Dialog. Die Hannoveraner dürfen also auf seine Aktivitäten gespannt sein. Ein Neubürger der Leinestadt wird er jedoch nicht werden. Mit seiner Frau und zwei Kindern bleibt der Kantor in Berlin wohnen.
Mehr als 200 Gäste nahmen zum Festgottesdienst in der Synagoge Platz, darunter viele Ehrengäste und auch zahlreiche Vertreter anderer Religionen. Außer Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil tritt auch sein Thüringer Kollege Bodo Ramelow ans Rednerpult, der in seiner Funktion als Stiftungsmitglied der Leo Baeck Foundation erschienen ist und ebenso wie Weil in seiner Ansprache die Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft betont.
Als Last-Minute-Gast mischt sich noch die niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz unter die Polit-Prominenz, was aber nur einigen Anwesenden auffällt. Sehr beeindruckend ist die Gästeliste der anwesenden Vertreter jüdischer Geistlichkeit. Zwar ist Etz Chaim mit rund 750 Gemeindemitgliedern die größte liberale jüdische Gemeinde im deutschsprachigen Raum und hat, nicht zuletzt mit der Feier zu ihrem 20-jährigen Bestehen im Jahr 2015, schon einige große Feste gefeiert, aber dieser Tag sei doch etwas Besonderes, sagt die Vorsitzende Ingrid Wettberg: »35 Rabbiner aus aller Welt und zwei Ministerpräsidenten zu Gast bei uns – das ist einfach großartig!«
Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird von Vizepräsident Abraham Lehrer aus Köln vertreten. Aus Kalifornien ist Rabbinerin Denise L. Eger angereist. Sie ist die Präsidentin der Central Conference of American Rabbis, dem mit 2200 Mitgliedern weltweit größten Berufsverband reformorientierter Rabbiner und Rabbinerinnen.
Sonja Guentner, Vorsitzende der Union progressiver Juden in Deutschland, spricht ein Grußwort. Miriam Kramer, die Vorsitzende der europäischen Dachorganisation European Union for Progressive Judaism, ist aus London ebenfalls nach Hannover gekommen, um zu gratulieren.
Einführung Der Festgottesdienst trägt bereits deutlich die Handschrift von Assaf Levitin. Immer wieder setzt die Musik, vorgetragen von Solisten und Chor mit Orgelbegleitung, der Zeremonie Glanzlichter auf. Und ja, der neue Kantor ist wirklich ein hervorragender Sänger. Nacheinander werden die drei Kandidaten von Rabbiner Homolka vor den geöffneten Toraschrein geleitet.
Die Ordination von Lior Bar-Ami und Ariel Pollák und die Investitur des Kantors liegen in den Händen von Rabbiner Walter Jacob, dem Präsidenten des Kollegs. Er, in dessen Familie 16 Generationen von Rabbinern vertreten sind, legt ihnen den Tallit um, auf dem jeweils der Ordinationsspruch eingestickt ist, übergibt die Urkunden und segnet sie. Bewegende Momente, bei denen sich auf den Gesichtern der drei jungen Männer sowohl Stolz als auch große Freude zeigen. Gut zwei Stunden dauert der Gottesdienst, danach wird in allen Räumen der Gemeinde gefeiert.
»Eine beeindruckende, bestens organisierte Veranstaltung, in einer wunderschön schlichten Synagoge, die mir sehr gut gefällt«, kommentiert Abraham Lehrer, der das erste Mal in Hannover war. Dass die neuen Rabbiner nun nicht in Deutschland, sondern im Ausland tätig sein werden, findet er zwar bedauerlich, aber er beurteilt die Situation realistisch: »Viele der hiesigen Gemeinden sind einfach zu klein und damit finanziell nicht in der Lage, einem Rabbiner eine Vollzeit- oder auch nur Halbtagsstelle anzubieten. Dieser Problematik muss man in Zukunft versuchen zu begegnen.«