Chemnitz

Doppelter Grund zum Feiern

Zu den 18 jüdischen Männern und Frauen, die am 7. September 1945 die Jüdische Gemeinde in Chemnitz wiedergegründet hatten, gehörten auch Siegmund Rotstein sel. A. und der Auschwitz-Überlebende Justin Sonder.

Sie waren damals aufgebrochen, um sich in dem eher unscheinbaren Wohnhaus am Stiftsweg 107, das im Ortsteil Ebersdorf liegt, einzufinden. Siegbert Fechenbach, der dort seit Mai 1945 mit seiner Ehefrau Anna lebte, hatte sie eingeladen.

Siegmund Rotstein, der vor wenigen Tagen starb, erinnerte sich Jahrzehnte später: »Fechenbach schrieb im September 1945 alle zurückgekommenen Juden an und bat sie, sich in die bei ihm ausgelegten Listen einzutragen und somit der wieder zu gründenden Gemeinde beizutreten.« Gemeinsam mit seiner älteren Schwester Marianne nahm er an der denkwürdigen Versammlung teil.

ANFÄNGE Über den Verlauf der Versammlung liegen keine Angaben vor. Die Teilnehmer entschieden aber an jenem Tag, die Kultusgemeinde unter einem anderen Namen wiederzugründen.

Fechenbach, der auch schon Vorstandsmitglied der 1939 zerschlagenen Religionsgemeinde war, begründete dies später so: »Bei der Wiedergründung einer Religionsgemeinde der in Chemnitz noch lebenden Juden wurde absichtlich der Name Jüdische Gemeinde gewählt, weil er die Sache, nämlich die Vereinigung von Juden zu einer Gemeinschaft, richtig und genau bezeichnet. Israeliten sind heute die Angehörigen des Staates Israel, soweit sie sich zum Judentum bekennen. Gerade, weil unter dem Hitlerregime das Wort Jude ein Schimpfwort und eine Diskriminierung bedeutete, haben wir in Chemnitz als bewusste Juden den Namen Jüdische Gemeinde gewählt.«

Die 550 Mitglieder begehen neben dem 75. Jahrestag der Wiedergründung auch den 135. Jahrestag der Gemeindegründung.

Die Gemeinde erweckte anfangs in der Öffentlichkeit noch den Eindruck eines Provisoriums. Sie wollte aber weder als »Gemeinde auf Zeit« noch als »Liquidationsgemeinde« angesehen werden. Die meisten ihrer Mitglieder hatten sich bewusst für den Verbleib in Deutschland entschieden, und nur wenige hatten die Absicht, bald das Land zu verlassen (wie Adolf Diamant sel. A. oder Erich Wangenheim sel. A.).

Fechenbachs Wohnung wurde schnell zur »jüdischen Betreuungsstelle«. Bis Mai 1949 war die Privatanschrift auch die offizielle Adresse der Jüdischen Gemeinde. Daran hatte auch ihre offizielle Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts durch die Landesregierung Sachsen im März 1947 nichts geändert.

Es war auch Fechenbachs Verdienst, dass die im Aufbau befindliche Chemnitzer Stadtverwaltung den Neuanfang der Gemeinde, ihren begrenzten Möglichkeiten entsprechend, unterstützte. Bereits im Herbst 1945 stellte sie ihr einen Unterrichtsraum, und zwar den Raum 45, im Realgymnasium (heute Georgius-Agricola-Gymnasium) zur Verfügung. Regelmäßige Gottesdienste wurden wieder möglich. In der Aula konnten die Gemeindemitglieder in jenem Jahr erstmals Rosch Haschana feiern.

In der Aula des Gymnasiums feierten die Überlebenden 1945
Rosch Haschana.

Der Publizist Adolf Diamant erinnerte sich mehr als 55 Jahre später an diesen Festtag: Fechenbach hatte »sogar Gebetsbücher und Gebetsmäntel aus Berlin organisiert. Er fungierte als Vorbeter und als Kanzelredner. In seiner Ansprache – ich erinnere mich noch gut – sprach er allen Anwesenden Mut zu und machte Hoffnung für die Zukunft«. In einem anderen Raum wurde wenig später Chanukka gefeiert.

warenhaus Im Juni 2016 wurde in Anwesenheit von Siegmund Rotstein sel. A. und des Schulleiters Erhard Hänel eine Gedenktafel im ersten Obergeschoss des Gymnasiums eingeweiht. Die Tafel, die von dem renommierten Formgestalter Karl Clauss Dietel entworfen worden war, befindet sich unmittelbar neben der Tür zum damaligen Raum 45.

Seit dem Jahreswechsel 1948/49 befanden sich provisorische Gemeinderäume in der Innenstadt.

Darüber hinaus wurden auch der Erfrischungsraum des »Erzgebirgischen Warenhauses«, das sich seit Dezember 1945 im ehemaligen Verwaltungsgebäude des Warenhauses Tietz befand, und die Wohnung der Familie Bodik im Zeisigwald von der Gemeinde für Veranstaltungen genutzt.

Bis Juni 1946 hatten sich 45 der zurückgekehrten Juden als Gemeindemitglieder beim Vorstand registrieren lassen. 40 von ihnen hatten in jenem Jahr am ersten Sederabend der Chemnitzer Juden in der Nachkriegszeit teilgenommen. Für sie erklangen damals »die alten Weisen und erweckten bei den Anwesenden liebe Erinnerungen an vergangene Zeiten«, wie einem Bericht zu entnehmen ist.

DDR Seit dem Jahreswechsel 1948/49 befanden sich provisorische Gemeinderäume in der Innenstadt, und zwar in dem Gebäudekomplex Straße der Nationen 33, dem ehemaligen Kontorhaus der Alten Aktienspinnerei.

In der Folgezeit vertrat die Jüdische Gemeinde in Chemnitz nicht nur die Interessen der Juden, die in den Grenzen des 1904 festgelegten Gemeindebezirkes lebten, sondern auch die Belange der sich zum Judentum bekennenden Bürger im späteren Bezirk Karl-Marx-Stadt. Anfang 1948 zählte die Gemeinde 57 Mitglieder, die aus Annaberg, Arnsfeld, Aue, Geyer, Glauchau, Hainichen, Lugau, Meerane, Mittweida, Niederschmiedeberg, Penig, Siegmar-Schönau, Stollberg und Waldenburg kamen.

Die Zahl der Gemeindemitglieder nahm in den Folgejahren kontinuierlich ab. Dennoch gab es auch Grund zur Freude. So konnte die Gemeinde ab Juli 1953 einen Raum im »Kaffee Kleppel« am Brühl nutzen. Im September 1953 erhielt sie vom Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR 14.000 Mark zur Wiederherstellung ihres Friedhofs im Ortsteil Altendorf.

Hans Kleinberg, bis 1966 Vorstandsvorsitzender, kämpfte in dieser Zeit um den Erhalt der Selbstständigkeit der Gemeinde – mit Erfolg. Anfang 1958 konnte er einem ehemaligen Gemeindemitglied voller Stolz mitteilen: »Wir sind eine kleine Kehille von 30 Menschen und bauen jetzt ein neues Gemeindehaus, da unser früheres durch Bomben zerstört und unsere Synagoge von den Nazihorden in Brand gesteckt wurde.«

Es sollten noch über drei Jahre vergehen, bis die Gemeindemitglieder das ersehnte Haus ihr Eigen nennen durften. Dank der Unterstützung der Stadt konnte im Oktober 1961 das Jüdische Gemeindehaus am Kapellenberg eingeweiht werden. Karl Gerlach war der verantwortliche Architekt.

ZUWANDERUNG Nach Kleinbergs Tod übernahm Siegmund Rotstein am 9. Februar 1966 die Leitung der Gemeinde. Seit März 1961 war er bereits Zweiter Vorsitzender gewesen. Die Zahl der Gemeindemitglieder ging im Jahr 1967 weiter auf 22 zurück. Zwei Jahre später verlegte Renate Aris berufsbedingt ihren Wohnsitz von Dresden nach Karl-Marx-Stadt. Als die DDR in den Jahren 1989/90 unterging, hatte die Gemeinde nur noch elf Mitglieder.

Im Ergebnis der politischen Veränderungen in der Sowjetunion in dieser Zeit erfuhr das jüdische Leben in der Stadt Chemnitz eine unerwartete Wiedergeburt, die zum Entstehen der heutigen Jüdischen Gemeinde mit der Neuen Synagoge am Kapellenberg führte.

Die Jüdische Gemeinde Chemnitz, die sich den Herausforderungen, die mit der Integration der Zuwanderer in das Gemeinde- und Berufsleben verbunden waren, von Anfang an stellte, hat in diesem Jahr doppelten Grund zum Feiern.

Ihre 550 Mitglieder begehen neben dem 75. Jahrestag der Wiedergründung auch den 135. Jahrestag der Gemeindegründung. Anlässlich dieser Jubiläen findet am 7. September in der Aula des Agricola-Gymnasiums in Anwesenheit des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, ein Festakt statt.

Leo-Baeck-Preis

»Die größte Ehre«

BVB-Chef Hans-Joachim Watzke erhält die höchste Auszeichnung des Zentralrats der Juden

von Detlef David Kauschke  21.11.2024

Düsseldorf

Für Ausgleich und Verständnis

Der ehemalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet erhielt die Josef-Neuberger-Medaille

von Stefan Laurin  21.11.2024

Jubiläum

Religionen im Gespräch

Vor 75 Jahren wurde der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gegründet

von Claudia Irle-Utsch  21.11.2024

Uni Würzburg

Außergewöhnlicher Beitrag

Die Hochschule hat dem Zentralratspräsidenten die Ehrendoktorwürde verliehen

von Michel Mayr  20.11.2024

Engagement

Helfen macht glücklich

150 Aktionen, 3000 Freiwillige und jede Menge positive Erlebnisse. So war der Mitzvah Day

von Christine Schmitt  20.11.2024

Volkstrauertag

Verantwortung für die Menschlichkeit

Die Gemeinde gedachte in München der gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs

von Vivian Rosen  20.11.2024

München

»Lebt euer Leben. Feiert es!«

Michel Friedman sprach in der IKG über sein neues Buch – und den unbeugsamen Willen, den Herausforderungen seit dem 7. Oktober 2023 zu trotzen

von Luis Gruhler  20.11.2024

Aus einem Dutzend Ländern kamen über 100 Teilnehmer zum Shabbaton nach Frankfurt.

Frankfurt

Ein Jahr wie kein anderes

Was beschäftigt junge Jüdinnen und Juden in Europa 13 Monate nach dem 7. Oktober? Beim internationalen Schabbaton sprachen sie darüber. Wir waren mit dabei

von Joshua Schultheis  20.11.2024

Porträt

»Da gibt es kein ›Ja, aber‹«

Der Urgroßvater von Clara von Nathusius wurde hingerichtet, weil er am Attentat gegen Hitler beteiligt war. 80 Jahre später hat nun seine Urenkelin einen Preis für Zivilcourage und gegen Judenhass erhalten. Eine Begegnung

von Nina Schmedding  19.11.2024