Die Jahrestagung der Union progressiver Juden begann in diesem Jahr mit einer Überraschung. Erstmals folgte mit Josef Schuster ein amtierender Präsident des Zentralrats der Juden der Einladung zu diesem Treffen. »Wir schätzen den Pluralismus im Judentum in Deutschland und wissen zugleich, warum wir letztlich an einem Strang ziehen müssen«, würdigte der Zentralratspräsident in seinem Grußwort die Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland für die Weiterentwicklung der Religionsgemeinschaft, auch wenn sie bisweilen anstrengend sei. »Zuweilen droht sie uns zu überfordern. Doch völlige Gleichheit wäre Stillstand. Eine Religionsgemeinschaft entwickelt sich nicht weiter, wenn sich alle einig sind. Das wäre auch ganz und gar unjüdisch«, sagte Schuster.
Er selbst sei in einer Gemeinde aufgewachsen, zu deren Tradition es gehörte, zugleich orthodox, offen und modern zu sein, erzählte er. Das sei auch in seinem Elternhaus so gewesen. Bereits in den 60er-Jahren hätten seine Eltern ihn während eines Besuchs in Haifa in einen liberalen Gottesdienst mitgenommen, damit er den anderen Ritus kennenlernen sollte.
Allerdings, und darauf verwies der Zentralratspräsident ebenfalls, sei es Antisemiten egal, gegen wen sie sich richteten, sie machten keinen Unterschied zwischen jüdischen Strömungen. Er sähe deshalb die Verschiedenheit am liebsten unter einem Dach vereinigt, unter dem des Zentralrats der Juden, betonte Schuster. Ein Appell, den die liberalen Gemeindemitglieder unter dem Unions-Dach mit freundlichem Beifall bedachten.
Teilnehmer Rund 170 Tagungsteilnehmer konnte die Vorsitzende der Union progressiver Juden in Deutschland (UpJ), Sonja Guentner, in Bonn zur mittlerweile 22. Jahrestagung der UpJ begrüßen. Somit seien 22 der 24 Unionsgemeinden vertreten, berichtete sie. Hinzu kamen noch zahlreiche Kinder, denen ein eigenes Programm geboten wurde. Zu den Gästen der Tagung zählten wieder die Vorsitzende der Europäischen Union für progressives Judentum, Miriam Kramer aus London, und der Vorsitzende der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, Rabbiner Henry G. Brandt.
Und eine weitere Neuerung gab es bei der Tagung. Nach 13 Jahren im Berliner Johannesstift mussten die Organisatoren in diesem Jahr einen neuen Tagungsort finden, weil der alte umgebaut wird. So war man für die Tagung von Donnerstag bis Sonntag vom Spandauer Forst am Rande der Bundeshauptstadt ins Bundesviertel der Bundesstadt Bonn gezogen und hatte im modernen Gustav-Stresemann-Institut in der Nähe der Rheinauen ein geeignetes Tagungszentrum gefunden, das die Union auch für die kommenden Jahre nutzen will.
Die Wege sind hier kürzer als im weitläufigen Spandauer Johannesstift, es stehen mehr Tagungsräume und Gästezimmer zu Verfügung. Mit dem Umzug hat die Union seit 1995 mit ihrer Jahrestagung bereits das dritte Quartier bezogen. Bis 2002 fanden die Jahrestagungen mit einer Ausnahme im Martin-Niemöller-Haus in Arnoldshain statt.
Angst Sonja Guentner stellte in ihrer Ansprache am Donnerstagabend ein gesellschaftliches Klima diffuser Ängste und des Misstrauens gegenüber allen Religionsgemeinschaften fest. Attentate und Amokläufe spielten rechtspopulistischen Vereinfachern in die Hände, die für religiös begründeten Terror nicht nur die Gewalttäter verantwortlich machten, sondern den Religionen schlechthin unterstellten, Gewalt Vorschub zu leisten. Werte wie Vielfalt, Liberalität und Dialogbereitschaft gerieten dabei an den Rand. Es komme deshalb auf jeden einzelnen an, diese Werte zu verteidigen, so Guentner.
Ängste waren auch das Thema der Münchner Schriftstellerin Lena Gorelik. Mit einem sehr eindringlichen persönlichen Text reagierte sie auf die Ereignisse der vergangenen Wochen. Noch kürzlich habe es so ausgesehen, meinte sie, als sei die Welt in Deutschland noch in Ordnung. So sei es zwar nicht gewesen, aber nun sei auch dieses Gefühl weg. Attentate und Amoklauf – was komme noch, fragte sie. Sei schon wieder etwas passiert?
Gorelik spielte die diffusen Ängste auf ihre eigene Person bezogen durch: Ja, sie habe Angst. Keine Angst vor dem Tod, davor, Opfer zu werden oder vor dem Anderssein, sondern davor, dass ihre Kinder darunter leiden werden. Angst vor dem Tier im Menschen, dem Pauschalisieren, davor, was danach komme und dass es immerwährende Realität werden könne. Angst vor einer Polarisierung, bei der die einen wünschten, der Attentäter sei ein Flüchtling, und die anderen, er sei ein Rechtsradikaler. Alles sei im Begriff, schwarz zu werden, keiner wisse mehr, wie Weiß aussieht. Vielen Zuhörern im Saal sprach die Autorin augenscheinlich aus der Seele.
Das Programm, schon vor Monaten zusammengestellt, nahm das Thema Terror auf, etwa im Workshop des Staatsschützers Georg Steinert. Der Polizist leitet in Dortmund ein Kommissariat, das sich ausschließlich mit Rechtsextremismus beschäftigt. Steinert stellte Erscheinungsformen, Schlüsselpersonen und den Wandel in der rechten Szene vor. Er beschrieb darüber hinaus, wie gut vernetzt die Rechtsextremisten über ihre diversen Subkulturen hinweg sind. Es komme deshalb darauf an, dass auch in der Zivilgesellschaft der Austausch intensiviert werde, um Bedrohungen aus diesem Milieu einzudämmen.
Praxis In einem anderen Tagungsraum war man mit sehr praktischen Dingen beschäftigt: Wie bekomme ich einen stabilen Ton aus dem Schofar? Zunächst einen Kussmund bilden, lautete die Anweisung von Annette Willing. Mit Blick auf das bevorstehende Ende des jüdischen Jahres und die Hohen Feiertage schien die Gruppe danach recht gut trainiert, dem Widderhorn stabile Töne entlocken zu können. Nicht nur Lippenmuskeln seien nötig, sondern auch eine gute Körperspannung. Und natürlich üben, meint Annette Willing.
Einige andere Workshops widmeten sich der religiösen Praxis. Kantorin Aviv Weinberg vermittelte in zwei Sitzungen Melodien zum Tischgebet und Segenssprüche, Debbie Tal-Rüttger übte Schabbatlieder ein, während Ralph Selig und Paul Yuval Adam einen Chor organisierten, der die Melodien für den Kabbalat Schabbat der Tagung lernte.
Dass sich 70 Menschen in einen kleinen Raum quetschen, um sich über die Frage »Schöpfung oder Evolution?« aufklären zu lassen, überraschte den liberalen Rabbiner von München, Tom Kucera, sehr. Von ihm erfuhren die Teilnehmer, dass schon in den Kommentaren des Talmud, besonders aber bei großen Gelehrten wie Raschi oder Maimonides, die beiden Schöpfungsberichte der Tora nicht als Tatsachenberichte verstanden wurden, sondern als Erzählungen mit einem eigenen Fokus. Vor allem aber habe es in der jüdischen Tradition durchaus Vorstellungen von einem evolutionären Prozess der Schöpfung gegeben. Der Mensch sei sogar als Mitschöpfer begriffen worden: Er bereite aus einer Ähre schließlich das Brot und aus Flachs Kleidung.
Themen Gemeindemanagement, Pflanzen in der Bibel, Lea und Rachel – das Themenspektrum der Unionstagung war breitgefächert. Auch Themen, die man vielleicht eher umgehen möchte, wurden angesprochen und fanden sogar mehr Zuhörer als erwartet: So informierte Margarita Suslovic vom Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Niedersachsen darüber, was zur Vorbereitung auf den Todesfall gehört.
Am Rande der UpJ-Jahrestagung fand auch eine Mitgliederversammlung von »arzenu Deutschland«, dem Bund progressiver Zionisten, statt. Viele seiner Mitglieder gehören der Reformbewegung des Judentums an und kommen teilweise aus den Gemeinden der UpJ. Der Verein wählte einen neuen Vorstand. In den vergangenen Jahren hat arzenu neue Mitglieder gewonnen. 40 kamen eigens zur Abstimmung. In den Vorstand gewählt wurden Paul Yuval Adam (Bielefeld), Irmgard Trautwetter (Hamburg), Benno Simoni (Berlin), Jakob Walbe und Joel Michalowicz (beide Hannover).