Der erste Tag des Krieges wird Maja Marder für immer im Gedächtnis bleiben. Von einem Tag auf den anderen verlor die Welt des Kindes ihre Farben. Als die Deutschen am 22. Juni 1944 in die kleine moldauische Stadt Sguriza einmarschierten, musste die damals Elfjährige mitansehen, wie die Soldaten mithilfe rumänischer Hilfspolizisten alle Juden des Ortes auf die Straße trieben, ihre Habseligkeiten plünderten und ihre Häuser niederbrannten – auch das ihrer Familie.
Wen sie nicht sofort erschossen, den trieben die Deutschen monatelang vor sich her – durch Wälder, in Ghettos, über den Dnjestr. 1944 wurden Maja und ihre überlebenden Verwandten in einem ukrainischen Ghetto von der Roten Armee befreit.
Kontingentflüchtling Heute lebt die 87-Jährige in Frankfurt am Main. Als sogenannter Kontingentflüchtling kam sie in den 90er-Jahren nach Deutschland. Wenn sie Wohngeld beantragen will, muss sie die Frage, ob sie NS-Verfolgte sei, mit »Nein« beantworten. Denn der Status »Kontingentflüchtling« berechtigt Maja Marder nicht zu einer gesetzlich geregelten Rente, sondern deckt lediglich ihre Grundsicherung ab.
Die Begründung lautet: Sie habe ja nicht eingezahlt. Die Anerkennung als NS-Verfolgte, die ihren Lebensalltag erheblich erleichtern würde, wurde ihr bis heute verweigert. Auch auf Fremdrente haben die postsowjetischen Zuwanderer keinen Anspruch. Während den deutschstämmigen Zuwanderern – den Spätaussiedlern – bei der Rentenberechnung ihre Erwerbsjahre in der Sowjetunion angerechnet werden, zählt die frühere Berufszeit bei den zugewanderten russischsprachigen Juden nicht.
Seit zehn Jahren kämpft die Bundesassoziation »Phönix aus der Asche e.V.« für die Anerkennung der postsowjetischen Schoa-Überlebenden als NS-Verfolgte und eine damit einhergehende Verbesserung ihrer sozialrechtlichen Stellung. In ganz Deutschland betrifft das derzeit 600 Menschen. Etwa 40 von ihnen waren am Montag zu einer Konferenz ins Gemeindehaus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gekommen, um aktuelle Probleme zu diskutieren.
moral Mit der Tagung wollten Phönix-Präsident Alexej Heistver und sein Vize Aleksander Popov auf die prekäre Lebenssituation vieler zugewanderter Überlebender aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion aufmerksam machen. Unterstützt wurden sie dabei von der Agentur für Bildung, der Initiative 27. Januar und der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«. »Die Zeit drängt«, sagte Nadja Grintzewitsch von der Agentur für Bildung. Viele der Überlebenden, die sie vor ein paar Jahren kennengelernt habe, seien heute nicht mehr dabei. Es gehe weniger um Geld, betonte Aleksander Popov in seiner Rede, sondern um »Menschlichkeit, Moral und Würde«.
Seit der Gründung von Phönix haben Heistver und Popov zahlreiche Anträge an Bundesrat und Bundestag geschickt. Dass die Bundesregierung bislang keine Veränderung bezüglich des Status signalisiert, empfinden viele Phönix-Mitglieder als bitter.
»Mit dem Status ›Kontingentflüchtling‹ geht eine Stigmatisierung einher, die Betroffene nicht nur in ihren Menschenrechten und ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt, sondern ihnen ein würdevolles Leben im Alter unmöglich macht«, kritisierte Vereinspräsident Alexej Heistver. Seit Beginn der Zuwanderung sei genug Zeit gewesen, diesbezügliche Gesetzesmängel nachzubessern – trotz wiederholter Bemühungen durch einzelne Bundestagsabgeordnete, Medien und den jüdischen Wohlfahrtsverband ZWST bislang ohne Erfolg.
Fahrtkosten »Ich habe 37 Jahre lang als Chirurg gearbeitet, seit 15 Jahren lebe ich in Deutschland – doch vom deutschen Rentensystem bin ich ausgeschlossen«, kritisiert Felix Lipski. Sogar die erstatteten Fahrtkosten für die Tagung werden ihm von der Grundsicherung abgezogen.
Lipski war drei Jahre alt, als die Nazis in seine Heimatstadt Minsk einmarschierten und alle jüdischen Bewohner ins Ghetto pferchten. Wie der 79-Jährige hat jeder der Tagungsteilnehmer die Schoa unter grausamsten Bedingungen im Ghetto, auf Todesmärschen, im Versteck oder bei Partisanen überlebt.
Sie mussten mitansehen, wie ihre Angehörigen bei Massenerschießungen ermordet wurden. Mit Unterstützung des Vereins »Zeugen der Zeitzeugen« schildern die Überlebenden ihre Erlebnisse als Zeitzeugen in Schulen, Universitäten und anderen Bildungsstätten – eine leidvolle Aufgabe, die man nicht hoch genug wertschätzen könne, sagte Rüdiger Mahlo, Repräsentant der Claims Conference Deutschland. Denn die Begegnung mit Zeitzeugen sei einer der wichtigsten und zentralen Bestandteile der Erinnerungsarbeit.
eiserner vorhang Mahlo betonte, dass sich die Claims Conference seit Jahrzehnten für die Zahlungen an Überlebende starkmache. Er erinnerte daran, dass sich Deutschland während des Kalten Krieges und auch danach erfolgreich geweigert habe, »Entschädigung in die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs zu leisten und damit die jüdischen Opfer des NS-Regimes anzuerkennen«.
Mittlerweile würden zwar Entschädigungen und Renten gezahlt – auch in Mittel- und Osteuropa. Allein für die Child Survivors, denjenigen, die als Kinder die Schoa überlebten, habe die Claims Conference in den vergangenen zwei Jahren mehr als 70.000 Anträge zur Auszahlung gebracht. Doch all diese Leistungen würden nicht aufwiegen, »was Ihnen als Überlebenden des Nationalsozialismus widerfahren ist«, sagte Mahlo. Die Zahlungen seien und blieben »ein Symbol für ein Mindestmaß an Gerechtigkeit«. Die Überlebenden seien »doppelt traumatisiert« – erst durch die Schoa, später durch die »ideologisch motivierte Nichtanerkennung ihres Leids in der ehemaligen Sowjetunion«.
Mahlo versprach Unterstützung, um die Situation der Überlebenden in Deutschland weiter auf der politischen Tagesordnung zu halten. So regte er zum Beispiel an, zusammen mit Phönix eine Arbeitsgruppe zu bilden, um herauszufinden, wie sich die finanzielle Unterstützung der Claims Conference auf die jeweiligen Herkunftsländer verteilt.
Skandal Im Laufe des Tages kamen die Teilnehmer zudem mit Günter Jek ins Gespräch, dem Leiter des Berliner ZWST-Büros, sowie mit Daniel Müller, der das Projekt »Zeugen der Zeitzeugen« vorstellte.
Dessen Mitarbeiter, darunter viele junge Freiwillige, dokumentieren die Geschichten der Überlebenden, begleiten sie in Schulen und kümmern sich im Alltag um sie. Es sei moralisch schwer vorstellbar, sagte Müller der Jüdischen Allgemeinen, dass »ehemalige SS-Wachleute ihre vollen Renten bekommen, während ehemalige Ghetto-Zwangsarbeiter nichts erhalten«. Dass Menschen wie Maja Marder oder Felix Lipski nicht einmal als NS-Verfolgte anerkannt würden, sei »ein Skandal«.