Workshops im Netz wirken manchmal authentischer als konventionelle Gesprächsrunden vor Publikum. Der Auftakt der mehrteiligen Veranstaltungsreihe »Antisemitismus in Deutschland«, organisiert von der Regionalgruppe Hamburg der Deutschen Gesellschaft unter dem Titel »Jüdisches Leben in Deutschland – Kulturelle Vielfalt zwischen Tradition und aktuellen Herausforderungen«, war nah am Thema.
Das lag nicht nur daran, dass es »einem Minenfeld gleicht«, wie es ihr Vorstandsmitglied Dirk Reimers formulierte. Vielmehr sorgten die meinungsstarken Akteure durch ihre teils sehr persönlich gehaltenen Beiträge dafür, dass es spannend wurde.
»Mich nervt der Drang, Menschen mit einem Etikett zu versehen.«
Igor Levit
Allen voran der Musiker und Pianist Igor Levit. »Mich nervt der Drang, Menschen mit einem Etikett zu versehen«, betont er und verweist auf die verbalen Verrenkungen, wenn er in den Medien hierzulande beschrieben wird. »Dann ist vom deutsch-jüdischen Künstler mit russischen Wurzeln oder Ähnlichem die Rede. Das langweilt mich langsam. Selbstverständlich bin ich Musiker. Aber auch Jude durch und durch.«
PHÄNOMENE Für ihn ist das Ganze ein sehr deutsches Phänomen. »In den Vereinigten Staaten habe ich es noch nie erlebt, dass mich jemand als einen ›Russian-Jewish pianist of German heritage‹ vorstellte.« In der deutschen Gesellschaft habe sich wohl noch nicht herumgesprochen, dass das jüdische Leben von einer großen Vielfalt geprägt ist.
»Diversität ist nichts, was wir erst im 21. Jahrhundert kennengelernt haben«, skizziert die Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, Miriam Rürup, die Hintergründe. »Bereits in den Jahrzehnten vor 1933 gab es unterschiedlichste Formen des Jüdischsein.« Deutschnationale Juden, Zionisten sowie Assimilierte und Orthodoxe in allen Varianten oder eben solche, denen ihr Jüdischsein einfach egal war.
Nach der Schoa konnte sich erst mit der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion hierzulande wieder eine jüdische Diversität harausbilden.
»Erst mit der Zuwanderung vieler Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in den 90er-Jahren konnte sich hierzulande wieder eine jüdische Diversität herausbilden.« Das heißt aber noch nicht, dass sich dadurch das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen entkrampfte – eher das Gegenteil scheint der Fall. Die Historikerin spricht sogar von einer gewissen Obsession, die sich immer dann zeigt, sobald in Gesprächen die Wörter »Israel« oder »Jude« fallen.
JÜDISCHSEIN Das veranlasst Korbinian Frenzel, Redaktionsleiter Primetime bei Deutschlandfunk Kultur, der das Gespräch moderiert, zu der Frage, ob es in Deutschland jemals so etwas wie eine Normalität des Jüdischseins gegeben hat.
Die Jahre der Weimarer Republik und die Revolution von 1848, antwortet Rürup, seien jedes Mal mit der großen Hoffnung auf Emanzipation verbunden gewesen »und damit, dass Juden allen anderen als Staatsbürger gleichgestellt werden«. Für die Gegenwart konstatieren beide eine irritierende Entwicklung, die vor rund zehn Jahren begann. Das habe einerseits mit der Dominanz identitätspolitischer Positionen und Diskurse zu tun, sagt Rürup. Aber andererseits noch mehr mit Sprache.
Mit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 habe er bemerkt, wie sich die Sprache in Deutschland langsam zu vergiften begann. »Auch kamen Ressentiments zum Ausdruck, die ich zuvor in meinem Leben nie hatte erfahren müssen«, sagt Levit. Er nennt Beispiele, wie selbst gut Gemeintes völlig daneben sein kann.
»Achtet auf eure Sprache!«
Pianist Igor Levit
»Wenn CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer nach dem Anschlag auf die Moscheen in Christchurch in ihrer Verurteilung der Tat davon spricht, dass es egal sei, gegen wen sich Hass und Gewalt richten, dann liegt sie damit absolut falsch. Es ist eben nicht egal. Der Terror in Neuseeland richtete sich ganz konkret gegen Muslime, genauso wie der Mörder von Halle gezielt Juden im Visier hatte.« Deshalb lautet Levits Appell an alle, die die gesellschaftlichen Diskurse prägen: »Achtet auf eure Sprache!«
ALLTAG Im zweiten Teil der Veranstaltung steht das Thema »Vielfalt im Alltag – Jüdisches Leben innerhalb und außerhalb von Verbänden« im Mittelpunkt. Das Miteinander verschiedenster Strömungen innerhalb der jüdischen Gemeinden ist »das Rückgrat der jüdischen Gemeinschaft«, sagt Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden.
Wie stark und wirksam Vielfalt sein kann, davon konnte man während der Corona-Krise einen Eindruck gewinnen. »So wurden zahlreiche Programme aufgelegt, die unter anderem älteren Menschen halfen, besser durch diese schwere Zeit zu kommen«, erklärt Botmann.
Aber nicht nur das. »Die Gemeinden und der Zentralrat sind eingebunden in ein spannendes Umfeld unterschiedlichster jüdischer Organisationen und Vereine wie die LGBT-Initiative Keshet, die Jüdische Studierendenunion Deutschland oder der Bundesverband Jüdischer Mediziner.« Auf diese Weise wirkt man auch nach außen. »Junge jüdische Menschen gehen in die Schulen oder Universitäten und suchen den Dialog. Auch das ist ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung des Antisemitismus.«