»Führungskraft« ist ein ziemlich unschönes Wort, es klingt nach Großraumbüros und Stress. Deswegen heißt es neudeutsch gern »Leader«, das weckt ganz andere Assoziationen: Ein Leader soll nicht herumkommandieren, sondern andere zusammenbringen, inspirieren und eine Vision für die Zukunft aufzeigen. Und solche Menschen braucht es nicht nur in Konzernen, sondern auch in den jüdischen Gemeinden.
Deswegen hat die jüdische Bildungsinitiative Hillel gemeinsam mit der Alfred Landecker Stiftung einen »Incubator« ins Leben gerufen, noch so ein neudeutsches Wort: Junge jüdische Leader werden hier über neun Monate sprichwörtlich »ausgebrütet«. Sie lernen, was es braucht, um Führungsverantwortung zu übernehmen. »Es klingt banal, aber wir haben zum Beispiel geübt, wie man eine richtig gute E-Mail schreibt«, erzählt Esti Rubins (23). Sie ist eine von zehn jungen Erwachsenen, die nach drei Seminaren und acht Online-Kursen am vergangenen Wochenende in Berlin ihr Abschlusszertifikat entgegennahmen.
Leerstellen in der jüdischen Infrastruktur in Deutschland
In dem Programm geht es neben dem Erlernen von praktischen Fähigkeiten auch darum, welche Leerstellen die junge Generation in der jüdischen Infrastruktur in Deutschland empfindet und wie sie diese füllen möchte. »Wir wollen junge Juden befähigen, Veränderungen in ihren Gemeinden und der breiteren deutschen Gesellschaft anzustoßen«, heißt es in der Programmbeschreibung.
Die Landecker-Stiftung finanzierte die so entstandenen Projekte der Teilnehmenden. Da ist zum Beispiel David Weisman (23), der mit seiner Veranstaltungsreihe »G’fillte Thoughts« in München einen Raum bietet, in dem junge Menschen über religiöse und philosophische Texte diskutieren. »Ich wollte, dass Juden, egal wie gebildet sie sind, sich trauen, in unsere Texte einzutauchen, und über Fragen sprechen, die existenziell für uns sind«, sagt er.
Ganz anders als David Weisman ist Masha Raykhman ohne religiösen Bezug aufgewachsen: »In der Gemeinde habe ich mich nicht zu Hause gefühlt«, sagt die 29-Jährige. Mit Projekten, die auf religiöse Bildung abzielten, konnte sie wenig anfangen, oft fühlte sie sich ausgeschlossen, weil sie Begriffe und Zeremonien nicht kannte. »Ich bin einfach nicht gläubig. Trotzdem bin ich jüdisch und brauche jüdische Menschen um mich, mit denen ich mich austauschen kann, auch um zu verarbeiten, was gerade geschieht.« Ihr Projekt »Lost Jew Crew« soll Menschen zusammenbringen, die sich in anderen jüdischen Räumen verloren fühlen.
Masha und David stehen auch für die Diversität der Gruppe: Es gibt orthodoxe und säkulare Teilnehmende, mit ukrainischen, russischen, deutschen Wurzeln. Manche überlegen noch, was sie aus ihrem jungen Leben machen wollen, einer ist gerade Vater geworden. »Ich glaube, unserer Generation fällt es leichter, Verschiedenheiten innerhalb der jüdischen Community zu akzeptieren und auch zu integrieren«, sagt Esti.
»Wir achten alle sehr aufeinander«
Wenn sie sich die Gruppe so anschaue, dann habe sie ein »wirklich gutes Gefühl« für die jüdische Gemeinschaft von morgen. »Wir achten alle sehr aufeinander.« Das kann man auch bei der Zeugnisvergabe im Innenhof eines Hotels beobachten. Ganz klein ist die Runde, für jeden Teilnehmer wird inbrünstig applaudiert, sodass andere Hotelgäste neugierig näher kommen.
»In den letzten Monaten haben wir alle harte Phasen durchlebt, in denen auch ich mal müde wurde«, sagt Elmira Tarivierdiieva, die das Programm für Hillel geleitet hat, »aber eure Energie hat mir geholfen, weiterzumachen.« Dann werfen alle ihre Bachelorkappen in die Höhe. »Ihr seid jetzt offiziell Alumni!«, ruft Tarivierdiieva. Die nächste Generation wird nicht lange auf sich warten lassen: Im Herbst sollen die nächsten Leader in das Programm starten.