Die Stadt Rohatyn im Westen der Ukraine war einst eine blühende jüdische Stadt. 1633 wurde sie von König Władysław IV. Wasa mit Privilegien bedacht, 1868 erhielten die Juden von der österreichischen Regierung die gesellschaftliche Gleichberechtigung. Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion aber ließ Hans Krüger, SS-Offizier und Leiter der Sicherheitspolizei im nahe gelegenen Stanislau, am 20. März 1942 hier fast 2500 Juden erschießen.
Nach der Deportation von weiteren 3500 Juden ins Vernichtungslager Belzec befahl Krüger im Juni 1943 die Liquidierung des Ghettos. Als die Rote Armee am 24. Juli 1944 Rohatyn befreite, traf sie am Ort nur noch 30 Juden an. Das über Jahrhunderte blühende jüdische Leben war erloschen.
Einige Jahrzehnte später kamen zwei junge amerikanische Juden nach Rohatyn und fanden die einstigen Synagogen und den Friedhof in einem beklagenswerten Zustand vor. Spontan gründeten sie »Rohatyn Jewish Heritage«, eine NGO, die sich der Erhaltung des jüdischen Erbes in Rohatyn verschrieben hat, einschließlich der Wiederherstellung und Dokumentation von Grabsteinen.
MITSTREITER Über soziale Medien suchten sie weltweit Mitstreiter. So fand auch Pierre Richard aus Berlin zu diesem Projekt. Schon als Student der Politik und Verwaltung an der Universität Potsdam kümmerte er sich in seiner Freizeit um den Erhalt jüdischer Kulturgüter in Brandenburg. Dem Online-Aufruf von »Rohatyn Jewish Heritage« folgend, reiste er mehrfach in die Ukraine, um neben Synagogen und Friedhöfen auch Mahnmale zu pflegen, die an die Schoa erinnern.
Im vergangenen Jahr gewann er mit Arnold Vinkeles, dem Sohn eines Amsterdamer Juden, einen neuen Berliner Mitstreiter. Längst blieb das Projekt in der Ukraine nicht nur auf Rohatyn beschränkt – mit anderen Aktivisten befreiten Richard und Vinkeles die Ruine einer Synagoge aus dem Spätmittelalter in Sokol vom Gestrüpp, begannen in Lwiw mit der Renovierung einer alten Synagoge und reinigten das dortige Ghetto-Mahnmal vom Müll.
Das, was an diese untergegangene Welt erinnert, muss gepflegt werden.
Arnold Vinkeles beschreibt seine Motivation so: »Das, was an diese untergegangene Welt erinnert, muss gepflegt werden.« In diesem Jahr ist es dem Coronavirus geschuldet, dass die bereits geplanten Flüge ausfielen. Allerdings wollten sie nicht untätig bleiben. Unter dem Motto »Lwiw Challenge« riefen Pierre Richard und Arnold Vinkeles dazu auf, sich an einem Sonntagnachmittag in der Rosenstraße einzufinden – an jenem Ort, wo neben der Skulptur »Die Frauen von der Rosenstraße« einst die »Alte Synagoge« stand.
SYNAGOGE Dem Aufruf, diesen Ort zu säubern, folgten Mitte August einige junge Leute, darunter die Theaterschneiderin und Kunsthistorikerin Kelly Zehe, die einer in Hamburg lebenden jüdischen Familie entstammt und als Kostümdesignerin an historischen Filmproduktionen wie Berlin Babylon mitarbeitete. Sie will »jüdischen Stätten die Würde zurückgeben« und erklärt: »Selbst viele Berliner Juden wissen gar nicht, dass es diesen Ort hier gibt. Mir lag daran, dass neben diesem sehr wichtigen Mahnmal auch auf die Synagoge hingewiesen wird.«
Ob dies allein mit Besen und Handschuhen und dem Zusammenkehren von Laub bewirkt werden kann, sei dahingestellt. Doch die Aktion animiert durchaus zu weitergehenden Überlegungen. Susanne Stephan etwa, Beterin der Synagoge Fraenkelufer, schlägt vor: »Es könnten entlang des Zauns Informationsstelen aufgestellt werden. Es wäre auch gar nicht schlecht, nachts die Anlage zu überwachen, damit Obdachlose hier nicht ihre Notdurft verrichten oder Junkies sich einen Schuss setzen.«
Nach getaner Arbeit zog die kleine Gruppe weiter ins einstige Scheunenviertel, um dort die zahlreichen Stolpersteine zu putzen. Das Beispiel der »Rohatyn Jewish Heritage« macht offenbar Schule.