ZWST

»Die Willkommenskultur ist unvorstellbar«

Ilya Daboosh über Hilfen für Geflüchtete, die besondere Rolle von Schoa-Überlebenden und Rosch Haschana

von Leticia Witte  24.09.2022 20:54 Uhr

Ilya Daboosh, Leiter des Sozialreferats der ZWST Foto: PR

Ilya Daboosh über Hilfen für Geflüchtete, die besondere Rolle von Schoa-Überlebenden und Rosch Haschana

von Leticia Witte  24.09.2022 20:54 Uhr

Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges hilft die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) in Frankfurt Geflüchteten intensiv und auf vielfältige Weise. Der Leiter des Sozialreferats, Ilya Daboosh, gibt im Interview einen Überblick über die bisher geleistete Unterstützung, spricht über die besondere Rolle von geflüchteten Schoa-Überlebenden und wie die Menschen aus der Ukraine in der Ausnahmesituation die anstehenden Hohen Feiertage begehen.

Herr Daboosh, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) hat sehr schnell nach Kriegsausbruch am 24. Februar Hilfe für Geflüchtete auf die Beine gestellt. Zum Beispiel wurden Menschen in Bussen über die Grenze gebracht ...
Ja, wir haben Geflüchtete über Chisinau in der Republik Moldau mit gecharterten Bussen nach Deutschland geholt. Die Menschen waren zum Teil über Tage unterwegs. Bis Pessach im April haben wir hier 14 Busse mit oft 50 bis 60 Leuten in Empfang genommen. Wir helfen aber auch Menschen, die auf anderen Wegen gekommen sind. Es war unglaublich, was die jüdischen Gemeinden in Deutschland geleistet haben. Der Großteil jüdischer Menschen hat selbst Migrations- und Fluchterfahrungen und weiß deshalb, worauf es ankommt.

Können Sie Beispiele für Hilfen nennen?
Im März waren ja vereinfachte Zuwanderungsregelungen für jüdische Zugewanderte aus der Ukraine vereinbart worden. Die Gemeinden und die ZWST bearbeiten diese Anträge. Bei uns sind bisher mehrere Hundert eingegangen, und wir prüfen sie akribisch. Die Unterlagen schicken wir danach an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das eine Entscheidung trifft. Damit sind wir gerade stark befasst.

Die ZWST hatte angekündigt, auch psychosoziale Hilfen anbieten zu wollen.
Wir haben zunächst für ein Jahr eine Psychologin und einen Psychologen eingestellt – beide sind selbst vor dem Krieg geflüchtet. Sie haben ihre Arbeit aufgenommen und leisten psychosoziale Betreuung in Gemeinden in Mönchengladbach und Würzburg, Hamburg ist geplant. Im Sommer waren wir mit rund 50 Menschen auf einer Familienfreizeit, bei der wir ebenfalls Beratungen angeboten haben. Viele Menschen sind sehr belastet und haben Probleme bei der Orientierung. Bei unserer Freizeit konnten viele Menschen das erste Mal seit sehr langer Zeit wieder lachen, ausgelassen sein und sich etwas entspannen.

Können Sie sagen, wie vielen Menschen die ZWST geholfen hat?
Das ist schwierig. Denn wir haben zum Beispiel auch eine Hotline geschaltet, an die sich Geflüchtete wenden konnten. Ich habe den Eindruck, dass sie in alle Welt gegangen ist – wir hatten Anrufe selbst aus den USA. Mit unserer Partnerorganisation IsraAID Germany haben wir 300 Tonnen an Lebensmitteln und Medikamenten an die ukrainische Grenze geliefert. Wir haben Schwangere aus Riga nach Wien gebracht und Krebskranke an Krankenhäuser vermittelt.

Es kamen auch Schoa-Überlebende nach Deutschland.
Wir haben gemeinsam mit der Jewish Claims Conference rund 100 Überlebende mit ihren Angehörigen aus der Ukraine evakuiert. Das war bisweilen nervenzerreißend, weil es schwierig war, Fahrer, die im wehrfähigen Alter waren und daher eigentlich in der Ukraine hätten bleiben müssen, über die Grenze zu bringen. Aber es hat geklappt. Die Hochbetagten sind auch in nichtjüdischen Einrichtungen untergekommen, etwa in Heimen mit russischsprachigen Kräften, was gleichwohl in Einzelfällen durchaus zu Spannungen geführt hat. Hierbei haben uns unsere Partner der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege wahnsinnig unterstützt. Sechs Überlebende in hohem Alter sind mittlerweile leider gestorben – ausgerechnet in Deutschland.

Welche Reaktionen auf die Aktivitäten der ZWST und die Ankunft der Geflüchteten haben Sie in Deutschland erlebt?
Nachbarn waren sehr hilfsbereit. Die Willkommenskultur ist unvorstellbar, das kommt uns sehr zugute. Menschen spenden Kleidung, sie beschwerten sich nicht über Geräusche, wenn zum Beispiel nachts um vier Uhr Busse mit Dutzenden Menschen und Haustieren ankamen.

Wo leben die von ihnen betreuten Geflüchteten jetzt?
Ein Großteil kam bei Verwandten und Freunden unter. Eine Mehrheit lebt jetzt in eigenen Wohnungen oder in Frankfurt auch in Hotels, wofür die Stadt die Miete zahlt.

Wie nehmen Sie die Stimmung wahr: Wollen Geflüchtete eher so schnell wie möglich wieder in ihre Heimat zurück oder doch in Deutschland bleiben?
Das ist unterschiedlich. Ein Teil möchte so schnell wie möglich zurück in die Ukraine, manche sind auch schon zurückgekehrt. Sie sind in einigermaßen ruhige Regionen gegangen. Es gab auch Menschen, die zurückgegangen sind, weil sie sich in Deutschland nicht wohlgefühlt haben. Das sind Schicksalsschläge. Andere wiederum wollen hier bleiben und nach den Strapazen einen Neuanfang wagen.

Am Sonntagabend beginnt Rosch Haschana. Danach folgen Jom Kippur und das Laubhüttenfest. Wie werden Geflüchtete eingebunden?
Die Gemeinden haben viele Angebote zu diesen wichtigen Feiertagen. Alle Geflüchteten sind herzlich willkommen, dabei zu sein. Manche werden die Feiertage aber auch ganz für sich begehen.

Welche Stimmung nehmen Sie in dieser Vorbereitungszeit auf das neue Jahr wahr?
Unter den Menschen aus der Ukraine herrscht Ungewissheit, was die Zukunft bringen wird. Viele leiden in ihrer neuen Umgebung unter Minderwertigkeitsgefühlen. Gleichzeitig sind sie stark in ihrem Charakter. Viele Menschen müssen sich insgesamt stärken.

Mit welchem Blick gehen Sie selbst ins neue Jahr 5783?
Ich frage mich, was uns erwartet angesichts von Inflation und hohen Energiepreisen. Zuvor waren wir in der Corona-Krise. Sie müssen bedenken, dass wir in den Gemeinden mit vielen älteren Mitgliedern nicht wenige Grundsicherungsempfänger haben. Ich habe etwas Angst davor, wohin die Reise geht.

Mit dem Leiter des Sozialreferats der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) sprach Leticia Witte.

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