Porträt der Woche

Die Willensstarke

»Eine Kindheit hatte ich nie; ich übernahm früh Verantwortung«: Ruth Michel (89) lebt in Stuttgart. Foto: Christian Ignatzi

Ich wurde im November 1928 in Königsberg geboren. In einem Konzentrationslager war ich nie, doch ich erlebte einen lange vergessenen Holocaust im damals polnischen, heute ukrainischen Dorf Mykulytschyn nahe der rumänischen Grenze am Fluss Pruth. Ich hatte einen jüdischen Vater und eine evangelische Mutter. Meine Schwester war drei Jahre jünger als ich. Damals hieß ich Ruth Rosenstock.

Als Hitler 1933 die Macht übernahm, verließen meine Eltern unsere Heimat in Ostpreußen. Für Amerika oder Palästina reichte das Geld wohl nicht. Deshalb zogen wir nach Mykulytschyn, wo die Mutter meines Vaters lebte, eine sehr fromme orthodoxe Jüdin, die auf ihrem Grundstück eine Synagoge hatte erbauen lassen.

Als wir im Dorf eintrafen, war ich sechseinhalb Jahre alt. In der Schule hatte ich es schwer, weil mich die Kinder auslachten, da ich die Sprache nicht verstand. Ich war immer »die Ungünstige«: Bei den Polen war ich die Deutsche, bei den Deutschen die Jüdin. Ich schwor meinem Gott: Wenn ich die Sprache beherrsche, wird nie mehr jemand über mich lachen. Es darf nie jemand mehr wissen als ich, ich muss immer Klassenbeste sein.

katastrophe Als Hitler 1941 die Sowjetunion überfiel, begann unsere Katastrophe. Die Deutschen zogen junge Ukrainer in ihre Dienste ein. Diese Ukrainer fühlten sich wahnsinnig mächtig und benahmen sich wie die Vandalen. Sie schikanierten die jüdische Bevölkerung, wo sie nur konnten.

Bei den Polen war ich die Deutsche, bei den Deutschen die Jüdin.
In unserer jüdischen Straße gab es bald keine Fensterscheiben mehr, also kam mein Vater auf eine Idee. Er dachte, uns Kindern würde wegen unserer christlichen deutschen Mutter nichts passieren. Er selbst beschloss, zu Freunden zu ziehen, die rund 20 Kilometer entfernt lebten.

Bevor er ging, nahm er mich in den Arm und sagte: »Wenn ich nicht da bin, trägst du als die Älteste die Verantwortung für die Familie. Ich weiß, du kannst das, und ich weiß, du wirst das sehr gut machen.« Ich war 13 Jahre alt und fühlte mich zu jung – und doch stärker, als ich meine Mutter glaubte, weil sie noch immer die Sprache nicht verstand. Ich sollte in Zukunft der Kurier sein. Zwischen uns lagen 18 Kilometer. Seitdem bin ich erwachsen. Eine Kindheit hatte ich nie.

kurier Das nächste Problem zu dieser Zeit war, dass es kein einziges Geschäft mehr gab, in dem Juden hätten einkaufen können. Ich erfuhr, dass eine Gruppe von Menschen jede Woche einmal zu den Bergbauern ging, um Hausrat gegen Lebensmittel einzutauschen. Das fand ich eine tolle Sache und beschloss, mitzugehen. Meine Mutter sollte mir ein Paket packen mit Besteck, Bettwäsche und drei Töpfen, die ineinanderpassten.

Gegen Mittag erreichten wir eine Lichtung, vor uns lag ein wunderschönes kleines Dorf mit Häusern, deren Dächer fast bis zum Boden reichten. Kühe brüllten, Hunde bellten. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, wäre das ein wunderschöner Ausflug gewesen.

Es kostete mich Überwindung, an fremde Türen zu klopfen. Aber damals schon stand ich vor einem Haus und sagte mir: »Wenn du willst, kannst du alles.« Also klopfte ich. Die Bäuerin nahm zwei Töpfe, etwas Besteck und auch ein Bettlaken, um es als Tischtuch zu nutzen. Sie verschwand und kam mit einem Korb zurück. Darin waren Kartoffeln, Mehl und Butter. Um sieben Uhr abends war ich zu Hause, bewundert von meiner Mutter und Schwester – es war ganz toll.

In der nächsten Woche wurde der Rucksack wieder gepackt. Diesmal machte ich mich auf den langen Weg zu meinem Vater. Er war überglücklich, nahm mich auf den Arm, ließ mich nicht mehr herunter. Ich war in jener Zeit jeden Tag so etwas wie die Heldin des Tages.

hochwasser Doch es ereilte uns ein weiteres Unglück. Nachdem es wochenlang geregnet hatte, trat der Pruth über die Ufer. Wir verließen unsere Straße, kamen bei den Bauern in den angrenzenden Bergen unter und konnten erst ins Tal zurück, als das Wasser zurückgegangen war.

Als wir vor unserem Haus standen, konnten wir hindurchgucken. Das Wasser hatte die gesamte Einrichtung mitgerissen. Die Synagoge stand noch, doch der Rest war unbewohnbar. Nun hatten wir nichts mehr. Ich ging wieder zu meinem Vater, der sofort zurückkam. Wir fanden einen Raum mit drei Liegen, ein paar Stühlen, einem Tisch und einem Ofen. Das Fenster hatte einen Holzladen mit Astlöchern. Meine Schwester und ich beobachteten von nun an den ganzen Tag die Straße, um nach Gefahr Ausschau zu halten.

Irgendwann ging meine Mutter zu einer christlichen Frau nähen. Dort erfuhr sie, dass im örtlichen Sägewerk noch Juden arbeiteten. Auch mein Vater bekam dort Arbeit. So ging es ein paar Wochen weiter. Bis zum 9. Dezember 1941.

sägewerk Mein Vater verließ gegen sechs Uhr das Haus und ging zum Sägewerk. Ich hörte Laute auf der Straße, blickte durch die Astlöcher und sah eine Gruppe Menschen, die wild miteinander diskutierten. Einer der Männer sagte: »Die holen gerade alle Juden im Sägewerk ab.« Ich rannte ins Haus, ließ mir von meiner Mutter ein paar Brote schmieren und eilte zum Sägewerk. Ich wollte meinen Vater warnen.

Vor dem Tor standen einige uniformierte Ukrainer und ein Gestapo-Mann. Der fragte: »Was will denn die hier?« Ich sagte: »Mein Vater hat sein Essen vergessen.« Ich wusste, dass ich einen Grund nennen musste, um eingelassen zu werden. Doch er sagte: »Die kann später kommen, wenn wir mit den Juden hier fertig sind.« Also ging ich nach Hause.

Wir versteckten uns im Wald und blieben dort, bis es dunkel wurde. Von unserem Versteck aus behielten wir die Straße im Blick. Es muss gegen elf Uhr gewesen sein, als wir die Schlange der Menschen sahen, bewacht von den Ukrainern und zwei Deutschen.

suche Am nächsten Tag machten wir uns auf die Suche nach meinem Vater. Ich ging in unsere Straße und war entsetzt. Die Türen standen offen. Fremde Menschen gingen ein und aus. Wer herauskam, hatte die Arme voller Dinge, die ihm nicht gehörten. Eine Frau sagte mir, nachts um drei Uhr habe hier eine große Razzia stattgefunden. Alle Juden seien abgeholt worden.

Die Menschen wurden in drei enge Räume gepfercht. Sitzen konnten nur diejenigen, die zu schwach zum Stehen waren. Es gab weder Wasser noch Brot. Zur Notdurft stand ein Eimer da. So wurden die Menschen drei Tage lang festgehalten. Inzwischen war das Massengrab ausgehoben. Dann holten Lastwagen die Menschen ab. Sie mussten sich schichtweise auf den Boden legen. Eine Schicht Mensch über die andere. Darüber kam eine Plane.

Ein Ukrainer schlug mit Stöcken, wenn sich etwas bewegte. So wurden die Menschen zum Massengrab gekarrt, wo sie sich nackt ausziehen und ihre Personalien angeben mussten. Dann mussten sie sich nacheinander an den Rand der Grube knieen und wurden von Deutschen per Genickschuss einer nach dem anderen ermordet: Kinder, Mütter, Großväter, Väter, alle. Auch mein Vater. Das ist die Geschichte der Schoa in Mykulytschyn.

Meiner Mutter und mir gelang später die Rückkehr nach Königsberg. Ich hatte mich als polnische Zwangsarbeiterin getarnt. Meine Schwester war inzwischen wegen der Erschöpfung an Tuberkulose gestorben. Später wurde ich Zahntechnikerin und zog mit meinem Mann in die Nähe von Stuttgart, wo ich noch heute lebe.

zeitzeugin Die Zeit von damals prägt mich heute nicht mehr. Ich hatte nie irgendwelche Beschwerden – bis auf 1958. Da gab es hier in Baden-Württemberg Nazischmierereien. Ich bekam fürchterliche Angst, denn ich hatte ein Baby. Ich hatte richtige Herzanfälle. Geholfen hat mir eine Therapie. Heute geht es mir gut. Ich spiele gern Tennis und halte mich mit Fahrradfahren und Muskeltraining gesund.

Ich führe oft Zeitzeugengespräche an Schulen. In diesem Jahr waren es schon drei. Während ich spreche, ist die ganze Klasse mucksmäuschenstill. Selbst wenn es Abiturklassen sind. Die Kinder sind erschüttert, manche weinen. Kürzlich fragte mich ein Mädchen, ob es mich umarmen dürfe. Den Kindern gebe ich den Rat mit auf den Weg, wachsam zu sein, damit so etwas nie wieder passiert.

2010 kehrte ich nach Mykulytschyn zurück, um das Massengrab zu suchen. Ich ließ es instandsetzen und einen neuen Zaun um das Grab errichten. Die Innenfläche war total verwildert. Ich habe sie freiräumen und begrünen lassen und eine Gedenktafel angebracht. Darauf steht: »Zur Erinnerung an meinen Vater Aaron Rosenstock und alle Juden von Mykulytschyn, die hier am 12. Dezember 1941 von Deutschen bestialisch ermordet wurden.
November 2011, Ruth Michel Rosenstock«. Das ist mein Grab, es ist ja sonst niemand da. Deshalb schicke ich Geld dothin für die Pflege.

Es gibt in Mykulytschyn keinen einzigen Juden mehr. Und ich finde, dieser Boden hat keinen jüdischen Fuß mehr verdient. Aber so zu denken, ist nicht richtig. Richtig wäre, es würde dort wieder jüdisches Leben sein.

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