Seit es den Film Linie 41 gibt, ist einiges in Bewegung geraten. Ich reise hierhin und dorthin, spreche mit Menschen, erfahre Neues, und es geschieht etwas mit mir. Meine Frau war anfangs dagegen, dass ich mich noch einmal auf den Weg mache. Immerhin bin ich 90. Aber mittlerweile stimmt sie mit mir überein: Wir Überlebenden haben eine Verpflichtung. Denn da ist etwas in diesem Land, das gefällt mir gerade gar nicht.
Es sind diese »Randnachrichten«, die mich aufhorchen lassen. Zum Beispiel diese: Eine Gruppe junger Leute tut sich zusammen und gibt lautstark antisemitische Hassparolen von sich. Mitten in München, in einem gut besetzten Linienbus, vor ein paar Monaten. Und da war gerade einmal eine Frau, die sich erhoben hat und diesen Jugendlichen ins Wort gefallen ist. Was soll ich daraus anderes schließen, als dass wir noch einmal aufstehen und auf uns aufmerksam machen müssen?
Als ich 2015 zusammen mit 300 anderen Überlebenden zum 70. Jahrestag der Befreiung nach Auschwitz gefahren bin, hat mich ein Journalist gefragt: »Warum sind Sie gekommen, warum tun Sie sich das noch einmal an?« Da habe ich geantwortet: »Ich bin nicht gekommen, um die zu kritisieren, die die Tragödie verursacht haben, die gibt es ja meistens gar nicht mehr, ich bin gekommen, um gegen die anzutreten, die heute sagen, dass die Tragödie gar nicht stattgefunden hat.« Denen, die heute die Schoa leugnen, habe ich den Krieg angesagt.
Kraft Die von damals können ja behaupten, dass sie von Demagogen verführt und in die Irre geleitet worden sind. Demagogen haben diese Kraft. Das weiß ich, das habe ich am eigenen Leib erfahren, mit dem großen Unterschied, dass es bei mir positive Demagogen waren, denen ich gefolgt bin. Die gibt es nämlich auch. Es gibt so etwas wie positive Demagogen. Und denen bin ich nach Israel gefolgt, was meine Rettung war.
Was ich sagen will, ist, dass man gegen die Leugner und Hasser von heute klar Stellung beziehen muss. Wenn sich heute jemand erlaubt zu sagen, das, was damals passiert ist, »hatte schon seine Richtigkeit«, dann sagt er nichts anderes, als dass es richtig war, dass ich als Kind meinen Taten, meine Mame, meinen Bruder, meine ganze Familie bis auf einen Onkel und einen Cousin verloren habe. Das sollen sie mir ins Gesicht sagen, diese Leute.
Genauso wenig kann heute noch jemand ernsthaft behaupten, wir Juden seien nur Schacherer und Macher und Geldverleiher. In Israel haben wir das Gegenteil gezeigt. Wir sind ausgezeichnete Landwirte, wunderbare Handwerker, gute Straßenbauer. Ich habe in einem Kibbuz gelebt, ich weiß, wovon ich rede. Was hat man noch so über uns gesagt? Feige seien wir. Wie oft haben wir unser Land erfolgreich verteidigt? Wie oft? Wir haben eine der besten Armeen der Welt. Aber. Und jetzt kommt das Wichtigste: Wenn ich heute vor jungen Menschen stehe, ihnen von meinem Leben berichte – ob das nun in Deutschland oder in Polen ist –, dann zitiere ich Ben Gurion: »Germania acheret«, das heutige Deutschland ist ein anderes.
mame Für den Film Linie 41 bin ich ein Stück weit wieder in mein Leben von damals zurückgegangen. Der Berliner Regisseurin Tanja Cummings ist meine Geschichte zu Ohren gekommen, und sie wollte das mit mir machen. Wir haben alte Orte besucht, mit Leuten gesprochen. All das hat mich tief berührt und verdrängte Erinnerungen wieder hochkommen lassen.
Der schwerste Moment in meinem Leben ist es gewesen, als ich meine Mutter verloren habe. Diese Wunde verheilt nicht. Der Vater war ja schon tot, der Vater, der mich vielleicht ein Jahr jünger oder älter gemacht hat, sodass ich gar nicht genau weiß, ob es wirklich stimmt, was da in meinem Pass steht, dass ich nämlich 1927 geboren wurde in dem kleinen polnischen Schtetl Zgierz, nicht weit von Lódz. 1940 mussten wir alle ins Ghetto von Lódz. Dort ist mein Vater im sogenannten Roytn Hoyz, wo die Kriminalpolizei ihren Sitz hatte, zu Tode gefoltert worden, vielleicht wegen eines Rings, den er am Finger getragen hat. Aus Gold soll der gewesen sein? Mein Vater, Avram, war ein armer Schuster! Eines Tages sagte also die Mutter zu mir: »Nusele, du host keyn taten nisht mer.« Wir zwei waren allein.
Meine Mutter ging jeden Tag in die Fabrik, wo man Strohschuhe für die Wehrmacht angefertigt hat. Zu Hause haben wir uns wieder getroffen. Habe ich sie gesehen, habe ich – ich war ja noch ein Kind – gesagt: »Mame, Mame, ich bin hingerik«, und immer hat mir dann die Mutter von ihrem Essen gegeben.
Am 16. September 1942 ist sie, die den schönen Namen Bluma getragen hat, in meinen Armen gestorben. Ich habe für sie Kaddisch gesagt und war nun ganz allein.
Das ist eine wunde Stelle in meinem Leben geblieben. Es hat mich so gequält, dass ich der Mutter das Essen genommen habe, das habe ich auch immer nach den Filmvorführungen gesagt und konnte meine Tränen schwer zurückhalten, und einmal meinte eine Dame aus dem Publikum: »Aber Herr Grossmann, so wie Ihre Mutter hätten doch alle Mütter gehandelt.«
Dann sind immer mehr Frauen aufgestanden und haben gesagt: »Ja, wir hätten das auch so gemacht, wir hätten auch unserem Kind unser Essen gegeben, da brauchen Sie kein schlechtes Gewissen zu haben, Herr Grossmann.« Das hat mir sehr geholfen.
träume Später wurde ich nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort habe ich immer versucht, nachts davon zu träumen, was mir die Mame Gutes gekocht hat. Ich habe mich nachts satt gegessen an Gefiltem Fisch, gehackten Zwiebeln, Tscholent. Wir Jungs haben uns morgens getroffen und haben gefragt: »Hast du vom Essen geträumt? Erzähl!« Durch den Film habe ich auch endlich erfahren, was mit Ber, meinem älteren Bruder, passiert sein könnte. Er hat sich freiwillig gemeldet, um gegen die Bestien, die uns alle umbringen wollten, zu kämpfen. Er sympathisierte ja mit der jüdischen Arbeiterpartei »Bund«. Bei seinem Kampf ist er gefallen. Wahrscheinlich ist er durch Abgase in Kulmhof eliminiert worden. Ich war auf mich gestellt. Schlief in kalten Kellern, meine Blase ist eingefroren und seitdem verletzt.
In Eretz Israel, wo ich mit dem illegalen Schiff »Wedgwood«, das die britischen Truppen am 27. Juni 1946 in den Hafen von Haifa manövriert haben, gelandet bin, musste ich immer wieder zu Ärzten gehen, bis mir einer sagte: »Natan, geh damit zu den Deutschen, die deutschen Ärzte haben seit Stalingrad Erfahrung mit solchen Erfrierungen.« So bin ich also vor bald 60 Jahren nach Deutschland gekommen.
Hier habe ich 1966 meine Frau kennengelernt. Sie kommt aus der Modebranche, war Geschäftsführerin bei einer Textilfirma, die hier in München mit fünf Geschäften vertreten war. Dort war ich für alles technische Gerät zuständig. Handwerklich bin ich ja wirklich fit. Ich repariere alles, bin ein großer Bastler, eben ein Kibbuznik. Ein Handwerker hat bei uns zu Hause noch kein Geld verdient. Meine Frau schimpft, das hilft aber nichts, ich repariere weiter.
makkabi Was mich außerdem schon immer interessiert, das ist der Sport. Ich bin Bayernfan und Makkabi-Anhänger. Als Makkabi in München gegründet wurde, war ich mit von der Partie. Heute darf ich mich Ehrenmitglied nennen. Im Kibbuz ist Basketball mein Ding gewesen, obwohl ich so ein Kurzer war. Für Fußball fehlte ja der Platz in diesem kleinen Land.
In München hat es sich dann angeboten, dass ich bei Makkabi zuständig sein sollte für die erste Basketballmannschaft. Wir waren gar nicht schlecht. 1969 sind wir zusammen zur ersten Nachkriegs-Makkabiade nach Israel gereist. Und was passierte? Keiner wollte beim Einzug die deutsche Fahne tragen. Schließlich hat sich einer erbarmt, das war der Moritz Rajber. Und dann? Er und wir alle wurden mit richtig viel Applaus und Jubel empfangen.
Für Israel schlägt bis heute mein Herz. Umso empörter war ich, dass unser Bundespräsident Steinmeier einen Kranz an Arafats Grab niedergelegt hat. Damit hat er alles bei mir verloren. Arafat hat so viel Blut an seinen Händen. Meine Frau hat für Steinmeier ja etwas übrig, weil der seiner Frau eine Niere gespendet hat. Und das ist auch anzuerkennen.
Ja, meine Frau und ich reden über alles. Und seit Kurzem bin ich tatsächlich ein paar Jährchen jünger als sie geworden. Die Stadt Ludwigslust hat mir nämlich eine neue Geburtsurkunde ausgestellt, und zwar auf das Datum 2. Mai 1945. Das war der Tag, an dem uns die GIs dort befreit haben – und an dem mein neues Leben beginnen konnte.
Aufgezeichnet von Katrin Diehl