Ich zögerte keine Sekunde. Als ich hörte, dass zwei Familien aus der Ukraine in Not sind und vorübergehend eine Unterkunft in Deutschland benötigten, bot ich ihnen das Haus an, in dem mein Mann, mein jüngster Sohn und ich leben. Wir zogen aus und schafften Platz für die Kinder und Erwachsenen. Insgesamt 19 Leute fanden so ein Quartier. Wir hingegen kamen bei Verwandten unter. Meine beiden erwachsenen Kinder organisierten ein Hilfsnetz, schafften Lebensmittel und Matratzen heran. Nach zwei Monaten hatten die beiden Familien eine Bleibe gefunden, und wir konnten in unser Haus zurückziehen.
Die Wohnung, in der ich in Moskau aufgewachsen bin, war 22,3 Quadratmeter groß. Das war luxuriös, denn es war keine Kommunalka, bei der man sich immer eine Küche teilen musste. Wir hatten zwei Zimmer, in denen auch ein Klavier stand. Mein Vater, dessen Familie größtenteils während der Schoa umgebracht wurde, stammt nicht aus Moskau und bekam viel Besuch. Alle Wege führten nun zu uns. Etliche Gäste blieben auch über Nacht. Ein Platz zum Schlafen fand sich immer.
Bildung als Selbstverständlichkeit
Bildung war damals für die jüdischen Familien eine Selbstverständlichkeit. Als kleines Mädchen besuchte ich die Musikschule. Dort bemerkte man, dass ich etwas mehr kann als andere, und so wurde ich einer sogenannten Spezialschule, dem Moskauer Gnessin-Konservatorium für musikalisch Hochbegabte, vorgestellt. Ich war sieben Jahre alt, als ich die Aufnahmeprüfung bestand. Da hieß es dann, dass ich für die Geige gut wäre. Seitdem liebe ich die Violine.
Damals war ich allerdings nicht so begeistert davon, stundenlang üben zu müssen. Meine Mutter, die Maschinenbauingenieurin war, nahm sich eine berufliche Auszeit von sieben Jahren, um mich zu unterstützen. Richtig oder gar nicht, das war ihre Devise. Aber ich wurde überhaupt nicht gedrillt, es wurde mir alles ermöglicht. Ich hatte eine glückliche Kindheit. Zeitweise spielte ich Tennis, ich schwamm mit Vergnügen und malte voller Leidenschaft.
Und bereits als Kind kochte ich gern – das tue ich immer noch, am liebsten für viele Gäste. Mit vielen Freundinnen traf ich mich, einmal mit denen vom Hof und mit denen aus der Schule. Mit ihnen teilte ich die gleiche Leidenschaft – die Musik. Keineswegs fühlte ich mich eingeschränkt. Im Gegenteil. Zweimal in der Woche konnte ich ein Konzert besuchen, ins Bolschoi-Theater oder in die Oper gehen. Mir wurde sehr viel ermöglicht.
Meine erste Geige wurde in einer Möbelfabrik hergestellt.
Obwohl wir im Zentrum Moskaus wohnten, hatte ich einen Schulweg von etwa einer Stunde. Mit Bus und Bahn gelangte ich zur Schule. Wenn im Winter die Straßen nicht gestreut und infolgedessen glatt waren, war es immer eine Überraschung, ob der Bus kommt oder eben nicht. Das war für mich normal. Meine Geige hatte ich auch immer dabei.
Meine erste war eine 1/8-Geige. Sie wurde in einer Möbelfabrik angefertigt und kostete damals neun Rubel. Der Bogen bestand aus schwarzem Kunsthaar und war für knapp zwei Rubel zu erwerben. Die nächste, etwas größere Geige war dann schon ein anständiges Instrument, auf dem es leichter war, einen schönen Ton zu entwickeln. Wenn eine Saite gerissen oder abgenutzt war, hatte ich ein Problem.
Die, die in den Läden angeboten wurden, waren wegen ihrer schlechten Qualität nicht brauchbar. Auf dem Schwarzmarkt gab es halbwegs anständige für 25 Rubel. Das entsprach aber einem Viertel des Gehalts, das mein Vater als Patentanwalt verdiente. Noten gab es auch kaum. Deshalb schrieb meine Mutter sie netterweise oft mit der Hand ab. Im Büro meines Vaters gab es einen Kopierer, und so kopierte er einige Stücke für mich – obwohl es verboten war, etwas von außerhalb zu vervielfältigen. Glücklicherweise wurde er nie erwischt.
Schließlich spielte ich Zakhar Bron vor, weil ich gern von dem Violin-Virtuosen weiter ausgebildet werden wollte. Er nahm nur ungern Mädchen, eigentlich überhaupt niemanden. Um bei ihm studieren zu können, musste ich ins weit entfernte Nowosibirsk in Sibirien ziehen. So kam es, dass ich in Moskau alles stehen und liegen ließ und dorthin zog. Ich habe es nie bereut.
Neun bis zehn Stunden Üben täglich
Neun bis zehn Stunden am Tag übte ich Geige. Trotzdem waren wir im Studentenwohnheim sehr gesellig, und es blieb nicht allzu viel Zeit zum Schlafen. Allerdings wusste ich nie, wann er Zeit für eine Unterrichtsstunde für mich hatte. Denn es interessierte ihn nicht, wie lange eine Lektion auf dem Plan war. Er beendete die Stunde, wenn er fertig war. So kam es, dass meine Kommilitonen und ich im Flur warten mussten, bis er so weit war. Es interessierte ihn auch nicht, ob wir dadurch eine Vorlesung verpassten.
Mein Leben war gut ausgefüllt. Psychologie, Pädagogik und Dirigieren studierte ich zusätzlich. Heimlich spielte ich im Orchester des Musiktheaters mit, denn Bron war strikt dagegen. Aber so konnte ich mir etwas dazuverdienen. Damals hieß es, entweder Solist oder Lehrer. In einem Orchester zu spipelen, war nicht so angesehen. Born sagte immer: »Legen Sie die Überstunden in die Tasche, Sie werden später keine Zeit mehr haben, so viel zu üben, dann holen Sie sie wieder raus.« Er hatte recht. Ich hatte nie Probleme, Arbeit zu finden.
Nach dem Studium heiratete ich – mein Mann ist ebenfalls Musiker – und bekam zwei Kinder. Anfang 1991, da war ich 29 Jahre alt, nutzten wir eine Tournee, um uns nach Deutschland abzusetzen. Ich habe mich nie mit Russland identifiziert, genau genommen kenne ich den Staat nicht einmal. Denn als wir damals aufbrachen, verließ ich die Sowjetunion. Seitdem war ich nie wieder dort.
Da ich jüdische Vorfahren habe, konnten wir uns auch offiziell in Deutschland melden. Zuerst kamen wir privat in Berlin unter, denn der Konzertveranstalter hatte uns eine Wohnung in Neukölln zur Verfügung gestellt. Dann mussten wir für zwei Monate noch in ein Wohnheim nach Lichtenberg ziehen. Als mein Mann eine Anstellung hatte, zogen wir nach Zehlendorf. Meine Eltern sind uns vier Jahre später gefolgt.
In Orchestern und als Kammermusikerin
Mehrere Jahre spielte ich im Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt an der Oder, dann erhielt mein Mann ein lukratives Angebot in Stuttgart, und so kam es, dass wir Berlin nach zehn Jahren verließen. In Stuttgart kam auch mein jüngster Sohn auf die Welt. In mehreren Orchestern spielte ich dort und bin auch als Kammermusikerin aktiv.
Seit 22 Jahren unterrichte ich an der Musikschule in Filderstadt, was ich sehr gern tue. Lange hatte ich nach einer so guten pädagogischen Stelle gesucht, hier fand ich sie. Nun agiere ich zusätzlich als Assistentin bei der vor einem Jahr gegründeten Talentakademie, was für mich eine Bereicherung ist. Gegründet wurde sie von Lisa Neßling, die ebenfalls an der Musikschule in Filderstadt unterrichtet. Ich lerne dadurch sehr begabte junge Menschen kennen und verfolge ihre Entwicklung.
Margarita Volkova-Mendzelevskaya ist die Initiatorin, vor deren Wirken und Engagement ich großen Respekt habe.
Genauso geht es mir auch beim Karl-Adler-Jugendmusikwettbewerb, in dessen Jury mein Mann sitzt und deren Konzerte ich mir anhöre. Ich bin immer wieder beeindruckt, welche begabten jungen Musiker kommen. Margarita Volkova-Mendzelevskaya ist die Initiatorin, vor deren Wirken und Engagement ich großen Respekt habe. Ihre Arbeit schätze ich sehr, und ich bemühe mich, sie zu unterstützen, wo immer ich kann.
Sie hat auch die Internationale Musikakademie Nigun gegründet, um jüdischen Musikern eine Bühne zu geben und jüdische Musik bekannter zu machen. Das dazugehörige Orchester Nigun – ich bin dort Mitglied – hat sie ebenfalls initiiert. Im Lauf der Zeit haben wir viele der zeitgenössischen jüdischen Komponisten in Stuttgart uraufgeführt.
Musiker der Zukunft
Natürlich begleiten wir Musiker der Zukunft, Elina Singer ist mir in Erinnerung geblieben. Ebenso der Enkelsohn von Martha Argerich und David Chen. Bei unserem jüngsten Konzert, wenige Wochen nach dem 7. Oktober, standen wir alle auf, um im Stehen die Hatikwa zu spielen. Die israelische Geigerin Miriam Arhanogorodski kam trotz der schweren Zeiten – aber ohne Instrument. Da mussten wir ihr noch rasch eine Geige besorgen. Um diese Projekte zu stemmen, brauchen wir natürlich Sponsoren. Die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs unterstützt uns, ebenso die Stadt Stuttgart. Aber es könnten mehr sein.
Da ich so viel beschäftigt bin, stehe ich früh auf, um alles zu schaffen. Ich habe keinen Nerv mehr, lang zu schlafen. Meine Eltern sind uns wieder nachgezogen, meine Tochter lebt mit ihrer Familie in der Nähe und mein Sohn in München. Wir besuchen uns oft und gern.
Meine Geige, die 1924 in Moskau von Ewgenij Witatschek gebaut wurde und die ich einer Kommilitonin abkaufen konnte, begleitet mich seit Jahrzehnten. Und an unsere 22,3 Quadratmeter große Wohnung denke ich gern als ein kuscheliges Nest zurück.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt