Sehr geehrte Frau Rektorin Prof. Dr. Steinbeck,
sehr geehrte Frau Dr. Springorum,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Knoefel!
Verehrte Mitglieder des Hochschulrats, des Senats und des Rektorats der Heinrich-Heine-Universität.
Sehr geehrte Dekane, geschätzte Ehrensenatoren.
Ihnen allen gilt mein Dank für die außergewöhnliche Ehre, die mit dieser Gastprofessur verbunden ist. Ich hoffe, dass Sie Ihre Wahl für dieses Wintersemester nicht bereuen werden!
Liebe Studentinnen und Studenten,
liebe Gäste,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
»Ich stehe vor Ihnen – als stolze Deutsche.« – Mit diesen Worten habe ich am 27. Januar 2021 meine Rede im Deutschen Bundestag bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus begonnen.
Ich wusste, dieser Satz würde viele überraschen, einige vielleicht sogar provozieren, nicht jeder würde den Satz verstehen oder nachvollziehen können. Aber ich wollte diese Worte unbedingt sagen. Sie waren mir wichtig.
Ja, ich will stolz sein können – auf meine, unsere Heimat.
Ich halte dieses Gefühl für eine Voraussetzung, um wachsam und wehrhaft für die Werte einzustehen, auf denen unsere Gesellschaft beruht.
Aus diesem Grund habe ich mich immer für einen gesunden, aufgeklärten Patriotismus ausgesprochen.
Es war ein Kampf
Im Sinne der Bewusstmachung der hart erkämpften freiheitlich-demokratischen Errungenschaften, sowie der individuellen Verantwortung jedes einzelnen, diese alltäglich zu verteidigen.
Nur weil ich wieder stolz sein konnte, auf meine Heimat, nur weil ich ihr wieder lernte, in sie zu vertrauen, nur weil ich wieder Sicherheit und Geborgenheit spürte, nur, weil aus meinem Bleiben ein Ankommen,
ein Hiersein mit Herz und Seele wurde, konnte ich mit so viel Kraft, Leidenschaft und Herzblut für diese Heimat und ihre Zukunft kämpfen.
Und es war ein Kampf, meine Damen und Herren,
aber ich habe es gerne getan!
Umso mehr schmerzen der Gedanke, die Ahnung, die Angst, dass ich diesen Satz so heute nicht mehr sagen würde. Bin ich das noch – stolz?
Kann ich das noch sein?
Gilt mir noch mein Hier- Angekommen-Sein?
Meine Damen und Herren, ich möchte diese Gastprofessur nutzen und verstanden wissen als ein lautes Nachdenken über unser Land, mein ganz persönliches Selbstverständnis und über die Gedankenwelt hier lebender jüdischer Bürgerinnen und Bürger.
Blick in die Seele unseres Landes
Ich möchte Sie mitnehmen in unsere Zeitgeschichte und bestimmte Blickwinkel auf unsere Gegenwart.
Eine Gegenwart, die nicht losgelöst von unserer singulär schrecklichen und grausam verbrecherischen Vergangenheit erlebt werden kann.
Ich lade Sie ein – zu einem tiefen Blick in die Seele unseres Landes und dann schauen wir, zu welchem Schluss wir kommen. Im besten Fall, meine Damen und Herren, im besten Fall können wir stolz sein!
Für den Anfang habe ich einen Moment gewählt, der für mich zwischen den Zeiten liegt. Zwischen zwei Welten.
Da war die schöne alte, fast heile Welt des deutschen Judentums zu Beginn des 20. Jahrhundert. Eine Welt, die bei meiner Geburt 1932 schon lang nicht mehr heil war, deren Ende am 9. November 1938 besiegelt und die bis 1945 völlig vernichtet wurde.
Und da ist die scheinbar schöne neue Welt des deutschen Judentums, wie man es etwa ab Mitte der 1980er Jahre und fast bis heute erleben konnte, eines Judentums, das neuen Mut fasste, das aus dem Überleben ein Leben geformt hatte, das anwuchs, selbstbewusster wurde, sich zeigte, das das Nebeneinander überwand und Teil eines Miteinanders werden wollte.
Und eben dazwischen, in einer Zwischenwelt, lag der 20. Mai 1947. Im Hinterhof der Reichenbachstraße 27 wurde die einzige erhaltene Synagoge der Stadt wieder eingeweiht.
Rückzug und Verstecken waren keine Rettung
Erstmals eröffnet wurde sie 1931 als eine der letzten Synagogen in Deutschland vor Hitlers Machtübernahme.
Die zurückgezogene Lage spiegelte bereits die veränderte gesellschaftliche Situation wider.
Die Menschen hatten Rückzug und Verstecken nicht retten können – das Gebäude schon: Mitten in dem dicht bebauten Areal errichtet, wurde die Synagoge in der sogenannten »Reichspogromnacht« 1938 zwar verwüstet, geplündert, geschändet und im Innern zerstört. Aber die Nazis und der Mob brannten es nicht nieder, um die anliegenden Gebäude zu schonen. So blieb es erhalten.
Kaum zwei Jahre nach dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland fanden sich Vertreter aus Kirche, Politik und Gesellschaft, die wenigen Mitglieder der Gemeinde, die überlebt hatten, sowie der US-Militärregierung im renovierten Gebet-Raum ein, um dem »Neuanfang« einen Rahmen zu geben.
Kurt Eisner, Otto Bernheimer, Therese Giehse, Lion Feuchtwanger, Hermann Levi, Max Reinhardt, Bruno Walter und viele, viele mehr
Im Jahr 1910 hatte München rund 600.000 Einwohner – mehr als 11.000 waren jüdisch. Darunter viele Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Kaufleute und Politiker – Persönlichkeiten wie Kurt Eisner, Otto Bernheimer, Therese Giehse, Lion Feuchtwanger, Hermann Levi, Max Reinhardt, Bruno Walter und viele, viele mehr.
Sie waren fester, prägender Teil des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens, trugen mitunter entscheidend zum internationalen Renommee Münchens bei.
Bereits in den 1920er Jahren begann das Leben für Juden schwieriger zu werden. SA-Trupps organisierten Übergriffe gegen jüdische Geschäfte und Personen.
Ab 1933 begannen massive, staatlich verordnete Schikanen und Repressionen, Ausgrenzung, Diffamierung, Diskriminierung, die in den Nürnberger Rassegesetzen mündeten und der Vertreibung und schließlich der Deportation und Vernichtung der Juden Europas den Weg bereiteten.
In den letzten Kriegsjahren hörte die Gemeinde de facto auf zu existieren.
15. Juli 1945
Und doch kehrte nach Kriegsende – unglaublich, aber wahr, wie eine Blume, die aus Trümmern wächst – jüdisches Leben zurück in die einst sogenannte »Hauptstadt der Bewegung«. Bereits am 15. Juli 1945 wurde die Israelitische Kultusgemeinde von Julius Spanier, meinem Vater Siegfried Neuland und rund 100 weiteren Davongekommenen wiedergegründet.
Und: München war Transitpunkt für viele Juden, die als »Displaced Persons« in und vor den Toren der Stadt sozusagen gestrandet waren, nachdem sie aus den Konzentrationslagern befreit worden oder aus Osteuropa geflohen waren. Den meisten diente München nur als Durchgangsstation auf dem Weg ins Mandatsgebiet Palästina, in die USA, nach England, Kanada, Australien oder andere Auswanderungsziele.
Aber einige blieben dann doch, oder hingen noch fest – und so hatte die Gemeinde rund 2.800 Mitglieder, als die Synagoge in der Reichenbachstraße eingeweiht wurde.
Dieser Tag nahm nicht im Buchstaben, sehr wohl aber im Geiste die Worte des späteren Hohen Kommissars, dem höchsten Vertreter der USA in der neuen Bundesrepublik Deutschland, vorweg.
So sagte John McCloy im Mai 1949, ich zitiere:
»Was diese Gemeinschaft sein wird« – gemeint waren die Gemeinschaft der jüdischen Menschen – »wie sie sich formiert, wie sie ein Teil des neuen Deutschlands wird und sich mit ihm verschmilzt, wird, glaube ich, von der ganzen Welt sehr aufmerksam beobachtet werden. Es wird meiner Ansicht nach einer der wirklichen Prüfsteine für den Fortschritt Deutschlands sein.«
Am 20. Mai 1947 unternahm die Stadtgesellschaft in München einen ersten wichtigen Schritt, um diese Prüfung zu bestehen. Der Tag beendete eine Phase der Provisorien, in der sich die jüdische Gemeinde in ehemaligen Musikschulen und Privatwohnungen zum Gebet versammelte.
Kein Interesse, »Prüfstein für den Fortschritt Deutschlands« zu sein
Zugleich jedoch – das aber konnte damals niemand erahnen – entstand in der Reichenbachstraße ein neues, wenn auch wunderbares und heiliges Provisorium, aus dem die Gemeinde am Ende des Jahrtausends herauswachsen sollte.
1947 hingegen musste man vom Gegenteil ausgehen. Denn die Mehrheit der hier verbliebenen jüdischen Menschen – wir hatten gar kein Interesse, im Sinne von John McCloy als »Prüfstein für den Fortschritt Deutschlands« auf dem Weg zurück in die Völkergemeinschaft zu fungieren.
Fast alle von uns – mich eingeschlossen – waren hier, weil es sich von München oder Frankfurt aus verhältnismäßig leicht emigrieren ließ. Viele kamen, weil die Ausreise von hier einfacher klappte als aus Polen oder der UdSSR.
Das organisierte jüdische Leben war auf die eigene, selbstbestimmte Auflösung ausgerichtet.
Die Gemeinden galten als sogenannte »Liquidationsgemeinden«, die die Auswanderung geordnet begleiten sollten.
»Land der Täter« oder gar »der Mörder«
Wer wollte schon unter denselben Nachbarn leben, die einen eben erst bespuckt, verachtet, verraten hatten?! Das »Land der Täter« oder gar »der Mörder« – so sprachen wir damals. So dachten wir damals. Unsere Anwesenheit hier war ein nötiges Übel – auf Zeit.
Doch es gab auch Ausnahmen – eine kleine Minderheit, die nichts von einer Auswanderung hielt. Mein Vater war so ein durch nichts zu erschütternder Patriot und Optimist – er sah eine jüdische Zukunft in seiner Stadt, in seinem Land. Er hielt das nicht nur für möglich – sondern sogar für erstrebenswert.
Und tatsächlich: Ihre unwahrscheinliche, ja unglaubliche Vision wurde Wirklichkeit.
»Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.« – Dieses Zitat von David Ben-Gurion fand auch auf Deutschland Anwendung.
Doch dieses Wunder war ein mühsamer Kraftakt – tatsächlich und mental. Auf den Schultern der knapp 30.000 jüdischen Menschen, die vor 1990 in der Bundesrepublik lebten, lastete jahrzehntelang eine dreifache Bürde: Sie hatten ihre Rolle in der deutschen Gesellschaft zu finden. Sie mussten diese Rolle nach innen, in den Gemeinden manifestieren und nach außen gegenüber jüdischen Freunden, Verwandten und Organisationen im Ausland erklären und rechtfertigen.
Denn für eine fortgesetzte jüdische Präsenz in Deutschland gab es vielerorts zunächst kein Verständnis.
Diese schier unmögliche Mission fiel einer Schicksals-Gemeinschaft zu, die noch schwer gezeichnet war durch ihre Traumata. Jeder jüdische Mensch im Deutschland der 1950er und 60er Jahre hätte eine grauenhafte Geschichte von Tod, Qual, Verlust, Entbehrung, Trauer und endlosem Schmerz zu erzählen gehabt.
Niemand von uns war ohne Wunde. Auch ich nicht. Aber wir waren ohne Sprache. Auch ich.
Erst ab Mitte der 1990er Jahre habe ich begonnen, in Schulen von meinen Erlebnissen zu berichten.
Und schließlich habe ich sie aufgeschrieben, gemeinsam mit Rafael Seligmann.
Das Buch »In Deutschland angekommen« erschien 2012. Wir haben den programmatischen Titel seinerzeit sehr bewusst gewählt. Ich verstand ihn sowohl normativ als auch deskriptiv, weil das Buch die ungeahnten Fortschritte darstellte, die ich in Deutschland miterleben und teils auch mitgestalten und befördern konnte.
Zwischen dem 6-jährigen Kind, das seine Heimat verliert, während es in der sogenannten »Kristallnacht« an der Hand des Vaters durch eine Stadt flüchtet, die in Hass und Tobsucht versinkt; dem 16-jährigen Mädchen, das es nicht erwarten konnte, diesem Land zu enteilen; und der 74-jährigen Gemeinde- und Zentralratspräsidentin, die 2006 das Tor zu einer neuen Hauptsynagoge im Herzen ihrer Heimatstadt aufschließt, lag nur ein Leben – und doch waren es Welten.
Ein Überleben unter falscher Identität im Versteck. Eine Rückkehr in Ruinen eines Landes in Trümmern – physisch, zivilisatorisch, moralisch. Eine Jugend im selbstgewählten Ghetto, in einer Gesellschaft, der man verletzt und misstrauend aus dem Weg ging. Eine Familiengründung an diesem unmöglichsten aller Orte – fast versehentlich, weil eigentlich auf dem Absprung nach St. Louis in den USA. Ein Bleiben, dass unfreiwillig passiert ist. Und dann, mit den heranwachsenden Kindern, ein immer bewussteres Ankommen in diesem Land, und ein Leben für dessen jüdische Zukunft.
In der Kultusgemeinde lagen mir zunächst die sozialen Belange am Herzen, vor allem die Hilfe für Holocaust-Überlebende. Anfang der Achtzigerjahre wurde meiner Arbeit mit einem Platz im Vorstand belohnt.
Kurz darauf die Wahl zur Präsidentin. Von mir weder erwartet noch gewollt. Das Amt kam an mich, weil sich die Fraktionen im Vorstand nicht einigen konnten und für den Rest der Wahlperiode einen Kompromisskandidaten suchten. Das war dann ich. Und offenbar passte das dann doch ganz gut – denn ich bin es bis heute.
Ironie der Geschichte
Und schließlich klopfte rund um 1990 die Weltgeschichte – und die Ironie der Geschichte – an unsere Tür. Der Eiserne Vorhang fiel und das vereinte Deutschland – nein, nicht ausgerechnet Deutschland, sondern gerade die Bundesrepublik Deutschland – lud in Gestalt von Helmut Kohl jüdische Menschen aus der zerfallenden Sowjetunion ein, hier eine neue Heimat zu finden.
Für uns als jüdische Gemeinde war das – langfristig – eine große Chance. Kurzfristig jedoch waren unsere dürftigen Infrastrukturen und Organisationsformen den Hundertausenden Menschen, die mit fremder Sprache in vier Generationen und buchstäblich mit Kind und Kindeskind, Hund und Katze vor uns standen, in keiner Weise gewachsen. Wir mussten alles aus dem Hut zaubern: Unterkünfte, Sprachkurse, Plätze in Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetrieben, Arbeitsplätze.
Mit Hilfe der öffentlichen und G’ttes Hand gelang das alles – aber unter großen Mühen.
In München wie vielerorts war schnell klar, dass die historisch bedeutsamen Räumlichkeiten in der Reichenbachstraße den neuen Anforderungen nicht mehr gerecht werden können. In mir reifte eine kühne Vision: Ein Gemeindezentrum und eine Synagoge, die nach sechs Jahrzehnten aus der Enge, der Unsichtbarkeit, dem Versteck im Hinterhof, hervortritt – ins Licht, in die Sichtbarkeit, in das Herz der Stadt.
Aus einer Vision wurde eine Idee.
Aus der Idee wurde ein Plan.
Und mit der Unterstützung des damaligen Oberbürgermeisters Christian Ude, unter dem das jüdische Zentrum zur Chefsache wurde, machte der Plan einer wunderbaren Wirklichkeit Platz.
Bewusst am 9. November
Am 9. November 2006 – ja, bewusst am 9. November – im Beisein der Namen und der unsterblichen Erinnerung an 4.500 jüdische Münchnerinnen und Münchner, die dem mörderischen deutschen Antisemitismus der Nationalsozialisten, zum Opfer gefallen waren – darunter meine über alles geliebte Großmutter Albertine Neuland – haben wir die neue Hauptsynagoge »Ohel Jakob« eingeweiht. Als Ausdruck eines neuen deutschen jüdischen Selbstbewusstseins, das ich damals in die Worte fasste: »Wir sind hier – und wir bleiben hier.«
Sie erhebt sich stolz auf dem St.-Jakobs-Platz, mitten in der Altstadt, nur einen Katzensprung entfernt von Sehenswürdigkeiten wie dem Rathaus am Marienplatz, der Frauenkirche, dem Viktualienmarkt oder dem Hofbräuhaus.
Die Synagoge und das jüdische Zentrum sind nicht nur das Stein gewordene Symbol für unser Ankommen und Bleiben in München. Unser mutiger Schritt inspirierte viele weitere Gemeinden zu ähnlichen Projekten in der ganzen Republik – wie in Mainz, Regensburg, Hannover, Magdeburg, Ulm, Bochum, Potsdam, Bielefeld und in direkter Nachbarschaft von Düsseldorf: in Neuss.
Im Rückblick waren diese Tage im Herbst 2006 und Frühjahr 2007 eine magische Zeit.
Zeugen des Anbruchs einer neuen Epoche für das jüdische Leben in Deutschland
Wir waren Zeugen des Anbruchs einer neuen Epoche für das jüdische Leben in Deutschland geworden. Die sprichwörtlichen »gepackten Koffer«, auf denen auch ich über Jahrzehnte gesessen hatte, wurden ausgepackt – und weggeräumt. Wir haben die jüdisch-deutsche Existenz nach allen schrecklichen Irr- und Abwegen,
auf die dieses Land sich begeben hatte, endlich auf einen geraden, gangbaren Weg zurückgeführt.
Einen Weg, an dessen Ende wirklich eine Art Normalität stehen konnte – nicht in messianischer Ferne, sondern vielleicht nur noch eine Generation entfernt.
Es war damals wie heute verführerisch, diesen Moment als Schlusspunkt einer größeren Erzählung zu wählen. Eben das haben Rafael Seligmann und ich auch getan: Das Buch »In Deutschland angekommen« beschreibt die Geschichte meines Lebens, das mit einer Reihe von Tiefpunkten begann und nun mit dem Ankommen bekrönt worden war.
Dennoch achteten wir darauf, die Rückschläge nicht auszublenden, die es sehr wohl gegeben hatte:
- Zum Beispiel den Brandanschlag auf das Gemeindezentrum in der Reichenbachstraße im Februar 1970, bei dem sieben Menschen starben.
- Das Olympia-Attentat zwei Jahre später mit elf ermordeten Israelis und einem toten bayerischen Polizisten.
- Und natürlich den vereitelten Sprengstoff-Anschlag auf die Grundsteinlegung für die neue Synagoge im November 2003.
Wir erwähnten auch die kruden öffentlichen Debatten rund um Israels Verteidigungskriege der Jahre 2006, 2008 und 2009.
Wir gingen über diese Rückschläge nicht hinweg. Aber es liegt wohl in der Natur von Geschichtsschreibung, dass das Ergebnis bestimmt, wie wir auf sein Zustandekommen zurückblicken. Eine Gegenwart, die auf die Zielgerade der ersehnten Normalität jüdischen Lebens in Deutschland einzubiegen schien, ließ uns harte Fakten großzügiger betrachten, als sie uns aus heutiger Sicht ins Auge stechen.
Etwa die Präsenz vieler kleiner, aber nie ganz verschwundener rechtsextremer Parteien in den Parlamenten – von der NPD über die Republikaner bis zur DVU.
Oder auch die vielen, vielen Anschläge auf jüdisches Leben, wie den versuchten Brandanschlag auf das West-Berliner Gemeindezentrum 1969, den Paketbombenanschlag auf deren Vorsitzenden Heinz Galinski 1975, den Mord an Shlomo Lewin 1980 in Erlangen, der ebenso in Vergessenheit geraten ist wie der an der Überlebenden Blanka Zmigrod 1992 auf offener Straße in Frankfurt am Main.
Hier in Düsseldorf sind das Sprengstoffattentat am Bahnhof Wehrhahn im August 2000 und der Brandanschlag auf die Synagoge im folgenden Oktober sicher noch präsent.
Auch diese Liste ist beileibe nicht vollständig. Der Journalist Ronen Steinke führte 2020 in seinem Buch »Terror gegen Juden« alle bekannten judenfeindlichen Vorfälle in Deutschland nach 1945 auf.
Darunter natürlich den verheerenden Anschlag auf die Synagoge in Halle.
Die Liste ist so lang, dass sie das gesamte letzte Drittel des Buchs einnimmt. Doch auch diese Aufzählung ist längst nicht mehr aktuell.
So schoss erst am 5. September, dem Jahrestag des Olympiaattentats ein islamistischer Attentäter vor dem israelischen Generalkonsulat und dem NS-Dokumentationszentrum in München um sich.
So wird die Liste täglich länger.
Und trotzdem: Im Jahr 2012 wollten wir das Positive hervorheben. Ich war geprägt von dem Optimismus meines Vaters: Hätten sich er und seine Mitstreiter auf das Negative konzentriert, würde heute kein jüdischer Mensch mehr in diesem Land leben. Pessimismus, so sagte es Golda Meir, »ist ein Luxus, den sich ein Jude niemals erlauben kann«.
Unser Optimismus war eine Entscheidung. Und er war das in Alltagshandeln gegossene, mühsam erarbeitete Vertrauen in unsere Umgebung. Vertrauen, dass dieser deutsche Staat besser war als jener, der sich so grausam am jüdischen Volk vergangen hatte.
Wir erkannten jetzt ein respektvolles Deutschland, freiheitlich, demokratisch, in alldem auch wehrhaft und vor allem: getragen von Menschen, die sich ihrer Verantwortung bewusst waren. Menschen, die wussten, dass Schuld individuell war und mit den letzten Tätern langsam verstarb. Dass die Verantwortung aber von Dauer ist.
Vertrauen schwindet
Wir vertrauten auf eine überwältigende Mehrheit, eine Gesellschaft, mit der – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Staat zu machen war.
Dieses Vertrauen ist das eigentliche Fundament aller neuen Synagogen und Gemeindezentren. Dieses Vertrauen ist das Fundament unserer Gegenwart. Und dieses Vertrauen ist das Fundament unserer Zukunft.
Und deshalb erschüttert der Rückblick auf die letzten Jahre und das schmerzliche Fazit: Dieses Vertrauen schwindet. Bei nicht wenigen ist es fast aufgebraucht.
Die Synagogen stehen noch stolz an prominenten Plätzen – aber sie drohen zu eingefrorenen Momenten der Zuversicht zu werden. Der Wandel kam wie in dem berühmten Hemingway-Zitat: erst langsam, dann ganz plötzlich.
Es begann mit einer Verschiebung der Debatten. Wir – und damit meine ich mich als Vertreterin sowohl der jüdischen Gemeinschaft als auch einer bestimmten Generation – wir waren heftige Diskussionen gewöhnt. Vielleicht noch heftiger als heute – aber eben anders.
Erinnern wir uns an den Fassbinder-Streit der 80er Jahre, die Walser-Bubis-Debatte nach Martin Walsers berüchtigter Rede in der Paulskirche 1998, Daniel Goldhagen und Norman Finkelstein.
Diese Debatten vor der Jahrtausendwende ließen sich in ihrer Struktur mit einer Seite im Talmud vergleichen: Ein Text in der Mitte wird umgeben von Kommentaren und Anmerkungen, die ihrerseits kommentiert werden, und so weiter. Die Foren waren gewählte Orte: Zeitungen, TV-Formate, Radio.
Es bedurfte sehr viel, damit eine Debatte die Schranke der Feuilletons in die erlebbare Alltagswirklichkeit überwand. Höchstens alle paar Jahre einmal kam das vor.
Veränderung des Debattenmodells
Ende der 2000er veränderte sich dieses Debattenmodell. Von allen Seiten erschallt eine Kakophonie einer unüberblickbaren Menge von Zwischenrufern – Kreischern.
Schon im Zuge der israelischen Militäroperation in Gaza zum Jahreswechsel 2008/09 und nach der sogenannten »Gaza-Flotille« im Mai 2010 zeigten sich verbale Ausschreitungen in einer neuen Präsenz und Qualität, die wir nicht kannten.
Viele Institutionen in Staat und Gesellschaft fanden darauf keine Antwort. Die meisten warteten einfach ab, bis das Gewitter vorbeigezogen war. Aber das war eben keine Lösung.
Sehr bald folgten Einschnitte, die niemand ignorieren konnte. Eine Grenze markierte der Sommer 2012.
In Folge eines – vorsichtig formuliert – schwer nachvollziehbaren Gerichtsurteils zur Beschneidung eines vierjährigen muslimischen Jungens, das der bis dato herrschenden Rechtsprechung widersprach, erhob sich ein ohrenbetäubender Chor aus Organisationen und Individuen, die mit nie gekannter Härte und Verbissenheit das Verbot religiöser Beschneidung von Jungen in Deutschland forderten.
In der jüdischen Gemeinschaft ist diese Zeit traumatisch in Erinnerung. Nicht, weil man beim Thema männliche Beschneidung nicht anderer Meinung sein darf – allerdings wäre es wünschenswert, sich vorher über die Rahmenbedingungen speziell im Judentum zu informieren. Aber das war nicht der Punkt. Wir waren schockiert, wie viele, die wir für Freunde und Verbündete gehalten hatten, partout nicht erkennen konnten, welche Tragweite das Thema aus jüdischer Sicht besaß – und welchen Schaden diese Debatte anrichtete. Nicht wenige, die bei der Eröffnung von Synagogen Beifall geklatscht hatten, riefen jetzt danach, diejenigen in die Illegalität zu treiben, die in ihnen beten wollten.
Die Debatten weckten unsere Existenzangst – weil essentielle Elemente unserer Religion infrage gestellt wurden. Vor allem jedoch, weil wir ein Ausmaß an Anfeindung und Ausgrenzung erlebten, das wir doch »nie wieder!« für möglich gehalten hatten.
Ende 2012 schuf der Gesetzgeber eine rechtssichere Praxis und der Streit verebbte. Doch die Wunde, die er geschlagen hatte, blieb. Wir hatten gelernt, dass die Bundesrepublik nicht mehr das Deutschland war, in dem Juden unhinterfragt als Juden leben können.
Teile der alteingesessenen deutschen Bevölkerung fanden im jüdischen Staat den Nagel für einem Hammer, mit dem sie gerne zuschlagen wollten.
Und es ging weiter. Wann immer Israel in irgendeiner Weise militärisch aktiv wurde – meist nach Phasen von besonders heftigem Raketenbeschuss durch die Hamas in Gaza – konnte man sicher sein, dass jüdisches Leben in Deutschland weniger sicher wurde.
Dafür brauchte es im Übrigen keinen sogenannten »importierten Antisemitismus« und Demonstrationen mit überwiegend migrantischem Teilnehmerkreis. Denn auch und nicht kleine Teile der alteingesessenen deutschen Bevölkerung fanden im jüdischen Staat den Nagel für einem Hammer, mit dem sie gerne zuschlagen wollten.
Günther Grass‹ als Gedicht getarnte Hetzschrift gegen Israel »Was gesagt werden muss« erschien prominent in der »Süddeutschen Zeitung«, der »New York Times« und »La Repubblica«.
Von da an riss die Serie öffentlicher Antisemitismus-Skandale nicht mehr ab. Doch selbst als 2014 vor allem muslimische Demonstranten Slogans wie »Hamas, Hamas, Juden ins Gas« oder »Kindermörder Israel« in deutschen Innenstädten skandierten, blieben die Reaktionen erschreckend überschaubar.
Bruchlinien, die unsere politischen und gesellschaftlichen Debatten heute prägen
In München veranstalteten wir eine Kundgebung gegen Judenhass. Die Initiative ging nicht von der Zivilgesellschaft aus – die Kultusgemeinde musste es selbst machen. Und dann kamen gerade einmal 500 Menschen. In Berlin, wo fast die gesamte Staatsspitze in den ersten Reihen vertreten war, blieb es um sie herum spärlich besetzt. Das Motto »Nie wieder Judenhass« wirkt im Rückblick wie ein trauriger Scherz.
In dieser Zeit wurden die Bruchlinien erkennbar, die unsere politischen und gesellschaftlichen Debatten heute prägen und an denen sich auch die jüdische Gemeinschaft notgedrungen ausrichten muss.
Vier große Gegenspieler formierten sich gegen ein fortgesetztes jüdisches Leben in Sicherheit und Geborgenheit:
Erstens: ein wütender, die Grenze zum Antisemitismus rasch überschreitender Israelhass.
Der gehört nicht nur in muslimischen Milieus zur Sozialisierung. Sondern der wird auch in Teilen einer offenbar orientierungslos gewordenen – oder in antizionistischem und sowjetischem Denken verhafteten – politischen Linken ausformuliert und intellektuell verziert. So oder so trifft er in seiner Wucht auch hier lebende jüdische Menschen mit unerträglicher Härte.
Zweitens: ein neuer alter Rechtsextremismus, der das bundesrepublikanische Projekt am Ende seines ersten Jahrhunderts ernsthaft in Gefahr zu bringen droht.
Drittens: vermeintliche Experten, die für billigen Applaus beide Probleme gegeneinander ausspielen.
Und viertens: Gleichgültigkeit all dem gegenüber und eine schweigende Mehrheit, die die existenzielle Gefahr für die jüdische Existenz und die Gesamtgesellschaft unterschätzt oder verkennt.
Das alles ist für die Mitglieder einer verunsicherten jüdischen Gemeinschaft eine enorme Belastung.
Fehlentwicklungen durch den Aufstieg Sozialer Medien
Der Aufstieg der Sozialen Medien, der für viele dieser Fehlentwicklungen mitverantwortlich war, sorgte zudem dafür, dass die Zahl der Rückzugsorte immer kleiner wurde. Übergriffe und Beleidigungen gegen den jüdischen Staat und jüdische Menschen füllten nicht mehr nur die klassischen Medien – sondern auch die Feeds auf Twitter und Facebook. Wer sich dort als jüdisch zu erkennen gab, wurde in langwierige, oft extrem persönlich geführte Diskussionen verwickelt. Tag für Tag für Tag.
Positiv ist anzumerken, dass die antiisraelischen und antisemitischen Demonstrationen von 2014 mit ihrer Schockwirkung in der demokratischen Politik zu einer Bewusstseinsveränderung führten.
Aber die Tragik war: Just zu dieser Zeit begann der demokratische Teil des politischen Spektrums zu schmelzen.
Vom »Professorenclub« zur verfestigten rechtsextremen Kaderpartei
Die AfD häutete sich vom »Professorenclub« zu einer verfestigten rechtsextremen Kaderpartei.
Ihr Eintritt in die Debatte und Parlamente machte die Lage noch prekärer. Themen, die im demokratischen Konsens eigentlich geklärt waren, standen wieder zur Diskussion.
Im Streben nach der »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« befeuert die AfD den Phantomschmerz einer angeblich durch und durch großartigen deutschen Geschichte, die nur von einem »Vogelschiss« namens Holocaust unterbrochen worden war, dem man ein »Denkmal der Schande« gesetzt hatte. Das greift frontal die gesellschaftliche Grundlage für unsere Demokratie an und natürlich auch für jüdisches Leben in Deutschland.
Sie alle kennen die Entwicklungen der letzten Jahre:
Die Skandale, die antidemokratischen Parolen und Strukturen, die Verfassungsschutzberichte, die kruden Kampagnen in den Sozialen Medien, die Verbotsdebatte und, allen voran, die Wahlergebnisse.
Wir wissen es: Das ist das Gegenteil von »Nie wieder!«.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, stehe ich noch als stolze Deutsche vor Ihnen?
Sitzen Sie noch als stolze Deutsche vor mir?
Reden und Handeln, Anspruch und Wirklichkeit – passen in unserem Land nicht mehr zusammen. Gute Worte klingen schön, aber wenn sie ohne Konsequenzen bleiben, hört bald niemand mehr zu.
Wir erleben, wie unser Fundament unterspült wird. Wir erleben, wie Hass auf jüdische Menschen und den jüdischen Staat, mit dem wir gleichgesetzt werden, der Demokratie zusetzt – und unsere Existenz gefährdet.
Wer hat die Lust und die Kraft, ständig als Markenbotschafter des Judentums oder gar des Staates Israel zu agieren?
Die einzige Möglichkeit für jüdische Menschen, hier ein unbeschwertes Leben zu führen, besteht heute darin, ihr Jüdischsein nicht erkennbar zu machen. Ich kann den Mitgliedern meiner Gemeinde nicht mehr raten, Kippa oder Davidstern offen zu tragen. Die Gefahr eines körperlichen Angriffs ist zu groß.
Hinzu kommt: Ich kann nicht mehr zählen, wie oft gerade Jugendliche mir berichten, dass sie verschweigen, jüdisch zu sein – weil die Situation nach der Offenbarung eine andere ist. Wer will sich permanent erklären, oder gar rechtfertigen müssen?
Wer hat die Lust und die Kraft, ständig als Markenbotschafter des Judentums oder gar des Staates Israel zu agieren? Die Feinheiten des sehr komplexen Verhältnisses jüdischer Menschen zu Israel kann und will man nicht auf Partys, am Stammtisch, am Supermarktregal, beim Friseur oder in der Unibibliothek ausdiskutieren. Zumal man meist auf Unverständnis trifft.
Diese Erfahrung hat vor allem das letzte Jahr geprägt. Der 7. Oktober 2023 selbst – und seine Folgen – haben der jüdischen Gemeinschaft in Israel und aller Welt einen schweren Schlag versetzt. Er war ein Erdbeben. Bis heute hat der Boden nicht aufgehört, sich zu bewegen. Wo bereits zuvor die dargelegte Unsicherheit herrschte, erleben wir nun Angst, Zerrissenheit, fehlende Hoffnung und Perspektive.
Ohne Fehl ist Israels Vorgehen sicher nicht.
In Deutschland wurde eine Welle der Solidarität abgelöst von der Rückkehr zu einer zu einseitigen »Israelkritik«. Ohne Fehl ist Israels Vorgehen sicher nicht. Aber der verengte Blick auf die schrecklichen Folgen des Krieges in Gaza und im Libanon führt zu einer Täter-Opfer-Umkehr und lässt Israels Maßnahmen zum Schutz seiner Bürger und zur Verteidigung seiner Existenz als das Problem erscheinen.
Der verengte Blick blendet aus, wer diesen Krieg begonnen hat.
Er übersieht das Leid der Menschen in Israel: den unablässigen Raketenbeschuss, die Terroranschläge, die Toten und Verletzten, die Verängstigten in den Schutzräumen, die Hunderttausenden auf der Flucht und und und.
Aus nahezu jeder Familie in Israel befindet sich ein Kind direkt oder in Reserve im Krieg.
Und dann ist da der unendliche Schmerz, den jüdische Menschen – in aller Welt – angesichts der noch immer über 100 Geiseln fühlen, die unter grauenvollen Bedingungen festgehalten werden. Wie lebendig begraben.
Der verengte Blick sieht das nicht und verleugnet, dass es Israels Feinde sind, die den Krieg – jederzeit – beenden könnten: Indem sie die Geiseln gehen lassen, die Waffen strecken und den Menschen in Gaza ein würdiges Leben ermöglichen. Geld genug haben sie – auch von uns.
Keine legitime Kritik, sondern Antisemitismus
Aber nein, weite Teil der Weltöffentlichkeit – auch bei uns – verdrehen die Realität: dämonisieren Israel, delegitimieren den jüdischen Staat, legen an ihn andere Standards als an andere Staaten an.
Und das ist dann keine legitime Kritik mehr, sondern Antisemitismus – und der muss auch so benannt, geächtet und bekämpft werden.
Aber genau da hapert es. Es klafft ein Abgrund auf dem Weg zur jüdischen Perspektive. Wir können nämlich nicht ergebnisoffen darüber diskutieren, ob beispielweise die Formel »From the River to the Sea« verhetzend ist oder nicht. Denn diese Hetze trifft uns direkt.
Sie trifft uns. Auch – das will ich gerade hier ganz deutlich sagen – an einigen Universitäten. Jüdischen Studierenden schlägt – weil sie jüdisch sind, bitte machen Sie sich diese uralte Stigmatisierung bewusst – eine Welle giftigsten Hasses und Beschränktheit entgegen, die mit Freigeistigkeit und Wissenschaft nicht das Geringste zu tun hat!
Ich bitte alle Verantwortlichen in Politik und Hochschulwesen auf das Dinglichste, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um diesem Treiben ein Ende zu setzen!
Antisemitismus darf in keiner Form – auch nicht in der verbrämten, vermeintlich intellektuellen in Wissenschaft, Kunst oder Kultur – verharmlost oder gar geduldet werden. Antisemitismus muss in jeder Form geächtet und verbannt werden. Sonst nimmt nicht nur das jüdische Leben Schaden – sondern unsere Demokratie!
Meine Damen und Herren,
leider sehen wir diese Phänomene weltweit.
Etwa auch in den USA und an dortigen Elite-Unis.
Beim ESC in Malmö trat die israelische Sängerin unter akuter Lebensgefahr auf.
Niederländische Polizisten weigern sich aus moralischen Gründen, jüdische Ziele zu schützen.
Explodierender Hass
Das Ausmaß an explodierendem Hass auf unserem Kontinent ist so groß, dass vermeintlich »kleinere« Attacken wie die Schüsse auf die israelischen Botschaften in Kopenhagen und Stockholm am 7. Oktober es hier schon gar nicht mehr in die Medien schaffen.
Keine Woche vergeht, ohne Angriff auf jüdische Menschen oder Einrichtungen, ohne Schändung eines jüdischen Friedhofs, eines Denkmals oder einer Gedenkstätte.
Jüdisches Leben, meine Damen und Herren, wird enger und ist weniger frei: Die ersten ändern ihre Namen für den Paket- und Lieferdienst oder den Uber-Fahrer. Viele entfernen die Mesusa von der Haustür. Wir beten in schönen neuen Synagogen, aber wir müssen uns darin verstecken, weil wir nur in ihnen Sicherheit kennen und auch das nur um einen hohen Preis. Unsere Kinder spielen und lernen hinter Panzerglas. Unsere Sicherheitsabteilung in der Münchner Gemeinde ist inzwischen so groß, dass man mit ihr einen kleinen Flughafen absichern könnte.
Auf der Suche nach Halt
Wir blicken in alle Richtungen auf der Suche nach Halt. Wir wollen nicht aufgeben, was aufgebaut wurde. Auch ich bin dazu nicht bereit. Aber wenn junge Menschen mich fragen, ob sie gehen oder bleiben sollen, antworte ich: Ich kann beides verstehen.
Was würde wohl John McCloy antworten, würde er Deutschland heute am Umgang mit seinen jüdischen Bürgern messen?
Ich denke, er würde daran erinnern, dass Judenhass eine Gesellschaft zerstört, ein Menetekel ist für Menschenverachtung aller Art, dass Antisemitismus ein Angriff auf die Demokratie ist – zumal er häufig Hand in Hand geht mit Rassismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit und politischem Extremismus.
Er würde dieser Gesellschaft ins Gewissen reden, damit sie den Judenhass als ihr eigenes Problem erkennt und bekämpft – um ihrer selbst willen!
Jüdische Menschen haben in diesem Land zu viel erlebt.
Wir haben zu viel ertragen – selbst die junge Generation, die eben nur unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen Kita, Kindergarten und Schule besuchen kann und an den Unis angegriffen wird.
Wir sind zermürbt, zu ausgelaugt, um die eingeübten Rituale aus Unsicherheit, Rückversicherung und nagenden Zweifeln endlos weiterzudrehen.
Wir haben hier vom Überleben zum Leben gefunden. Und wir werden diesen Weg nicht rückwärts gehen.
Ich habe vor 75 Jahren den Anfang dieser Demokratie miterleben dürfen. Die Bundesrepublik ist das Beste, was die Idee von Deutschland jemals hervorgebracht hat:
- Wo das Kaiserreich und die Weimarer Republik versagt haben,
- wo das selbsternannte »Dritte Reich« sich in ungeheuerliche Barbarei stürzte,
- da verbindet unser Staat Stabilität mit Wohlstand und – am wichtigsten – mit dem unantastbaren Primat der Menschenwürde.
Wenn jemals eines, dann kann dieses Land jüdischen Menschen Heimat sein.
Das war meine Überzeugung.
Heute schweben Fragezeichen über allem – auch im Titel dieser Veranstaltung. Aber während ich rede, in Ihre Gesichter sehe, spüre ich den Widerstand in mir. Knapp 80 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager bin ich nicht bereit, mich geschlagen zu geben. Ich will nicht infragestellen, ob es richtig war, die Koffer auszupacken.
Erinnerungen an den Vater
Mein g’ttseliger Vater war im Sommer 1945 vermutlich der einzige jüdische Mensch, der sich freiwillig in München aufhielt. Selbst nach den grauenhaften Erfahrungen der NS-Zeit, der Ermordung seiner Mutter und seiner Freunde, der Zwangsarbeit, die ihn fast erblinden ließ – hatte er seine Zuversicht und sein Vertrauen in dieses Land nicht verloren. Seine Stärke, sein Optimismus bleiben mir Vorbild und Ansporn.
Ihm hat die Geschichte Recht gegeben.
Jetzt ist es an uns, meine Damen und Herren, dass wir alles daransetzen, dass die Geschichte uns Recht gibt.
Ich appelliere an den Mut – nach Heinrich Heine die höchste Tugend – den Mut, dieses Land als offene Heimat für alle zu bewahren – nicht als umzäunte Scholle für wenige. Wer das Volk ist und wer nicht, entscheiden nicht mehr die, die am lautesten schreien. Den Mut, unser bürgerliches Selbstbewusstsein zu bewahren und unsere Demokratie zu verteidigen.
Eine wehrhafte Demokratie muss sich gegen den Missbrauch ihrer Freiheitsrechte zur Wehr setzen. Sie sind kein Freibrief für Hass. Wo Gerichte dies auf Basis der Rechtslage anders sehen, da sage ich klar: Die Legislative muss die Gesetze anpassen.
Wir brauchen Mut, für unsere so hart erkämpften demokratischen Errungenschaften einzustehen.
Demokratie braucht Mut
Wir brauchen Mut, um unsere Werte im Herzen und auf der Zunge zu tragen – auch nach außen: Wir dürfen nicht vor Autokraten einknicken. Und es darf keinen Kotau geben vor Terroristen. Mörder wie die Hamas und Hisbollah, aber auch das iranische Mullah-Regime sind jenseits von Taktik keine Verhandlungspartner – sie sind unsere Feinde.
Wir brauchen Mut, meine Damen und Herren, damit Vertrauen – wieder – möglich wird. Damit aus Fragezeichen wieder Ausrufezeichen werden. Damit dieses Land wieder – auf Dauer – Heimat für jüdische Menschen sein kann.
Niemand von uns muss Großtaten vollbringen, um dazu beizutragen. Aber jeder hat eine Verpflichtung im Kleinen – für das große Ganze. Eine Verantwortung. Es liegt in unserer Hand. Ich weiß, dass wir das können. Wir haben es schon einmal bewiesen. Und dann, dann können wir wieder stolz sein – das wünsche ich mir – unbedingt!
Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.