Weihnachten war mir immer – die christlichen Leser mögen bitte verzeihen – ein Graus. Ich weiß, dass ich mir damit nicht nur Freunde mache, aber so ist es nun einmal. In der Vorweihnachtszeit sind die Leute auf den Straßen noch gestresster als sonst, auf den Weihnachtsmärkten wird schlechtes Essen angeboten, und George Michaels »Last Christmas« wird nach gefühlten 1000-mal Hören auch nicht gerade besser.
Da hilft es auch nichts, dass es manche Juden geben soll, die Weihnachten innig lieben und es verschämt vor den Blicken ihrer Mitjuden feiern. Berühmt die Anekdote über den Besuch des Oberrabbiners von Wien bei Theodor Herzl. Das Entsetzen des gestrengen Rabbiners muss groß gewesen sein, als er im großbürgerlichen Salon des Begründers des Zionismus einen prächtigen Weihnachtsbaum vorfand.
traditionen Wie hätte der Rabbiner auch anders reagieren sollen? Wir Juden haben schließlich unsere eigenen Feiertage und Traditionen, auf die wir zu Recht stolz sein können. Am Lichterfest gedenken wir des Chanukkawunders, an Purim brüllen wir beim bösen Haman wie verrückt, und an Pessach erinnern wir an unseren Auszug aus Ägypten vor über 3000 Jahren. Sie wollten uns töten, wir haben überlebt, lasst uns endlich essen! So weit, so gut.
Doch wie erklärt sich der »jüdische Brauch«, Weihnachten in aller Ausführlichkeit zu begehen? Ich bin mir sicher, dass kein Jude dieses Fest mit religiösem Ernst feiert – zumindest ist mir keiner bekannt. Das Fest wurde zu einem selbstironischen Akt, und man lächelte über seine eigene Inkonsequenz, etwas mitzumachen, was überhaupt nicht für einen gedacht war.
Und diese Inkonsequenz, die von strengen Rabbinern misstrauisch wie missliebig beäugt wurde, macht diese Juden so liebenswert. Sich selbst nicht so ernst zu nehmen, ist eine unschätzbare Tugend. Demgegenüber schaudern wir vor Menschen zurück, die zu guter Letzt glauben, einen Sendungsauftrag zu besitzen, und sich dabei allzu ernst nehmen.
liebe In meinem Fall sind die Beweggründe, Weihnachten schön zu finden, jedoch ganz andere: Ausgerechnet als unbezahlter Berufsjude habe ich die Weihnachtszeit in den vergangenen zwölf Jahren lieben gelernt. Nein, lieben ist untertrieben. Jahr für Jahr habe ich ihr ab Ende November regelrecht entgegengefiebert.
Aus einem ganz banalen Grund: Die Weihnachtsfeiertage, Silvester und Neujahr sind schlicht die beste Zeit des Jahres, um zur Ruhe zu kommen und all das zu erledigen, wofür sonst keine Zeit bleibt. Die Steuererklärung etwa oder das längst überfällige Abschließen einer Zahnzusatzversicherung.
kultur Ich persönlich habe die Weihnachtsferien neben dem Aufräumen meines unter Messie-Syndrom-Verdacht stehenden Arbeitszimmers immer für Kultur geblockt. Wann hat man schon mal die Gelegenheit, alle Bände von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu lesen? Sich in James Joyces Tausend-Seiten-Werk Ulysses zu verlieren? Mehrere Staffeln der ebenso genialen wie verstörenden DVD-Reihe The Sopranos zu sehen?
Denn die Arbeit in einer Gemeinde ist – entgegen landläufiger Meinung – ein Fulltime-Job. Er könnte wichtiger nicht sein. Das Aufbauen einer jüdischen Infrastruktur und das Vermitteln eines positiven Judentums waren mir in meiner aktiven Zeit als Vorsitzender des Landesverbandes Rheinland-Pfalz und Vorstand der Mainzer Gemeinde ein Herzensanliegen. Doch allzu oft bleiben dabei Privates und wichtige Erledigungen auf der Strecke. Durch viele Gespräche weiß ich, dass es die meisten Funktionsträger in den jüdischen Gemeinden ähnlich sehen.
Termine Allein schon die vielen Termine: Ob Schoa-Gedenkstunde in Sörgenloch, jüdische Kulturwoche in Neustadt an der Weinstraße oder Israeltag in Schifferstadt – überall werden feierliche Grußworte von einem erwartet, zeitbedingte Absagen werden gleich als Politikum gedeutet. Und hinterher muss man sich dann noch Reden von Lokalpolitikern und jüdischen Gemeindehonoratioren anhören – vergnügungssteuerpflichtig ist das nicht.
Von der Arbeit in der Gemeinde ganz zu schweigen. »Die Juden sind ein Volk, das nicht schlafen kann und das die anderen nicht schlafen lässt«, sagte der Schriftsteller Isaac Bashevis Singer bekanntlich. Unsere Leute sind aber auch ganz gut darin, sich gegenseitig nicht schlafen zu lassen, finde ich.
Schachklub Als jüdischer Funktionär hatte ich jeden Tag das Privileg, mit liebenswerten wie manchmal auch nicht so liebenswerten Menschen über Geld zu debattieren, das man nicht hat, weswegen man ganz schnell der Buhmann ist. Geld für einen neuen Klub St. Petersburg. Geld für einen jiddischen Frauenchor. Geld für einen Schachklub.
In diesem Sinne, liebe Gemeindevertreter, die ihr an den eigenen Feiertagen vom Sufganiot- und Latkes-Kauf über das Regeln der Sitzordnung beim Schabbatessen bis hin zur Verwaltungsarbeit immer im Einsatz seid: Genießt die kommenden zwei Wochen – frohe Ruhetage!
Der Autor ist ehemaliger Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Rheinland-Pfalz.