Es war ein ganz besonderer Abend in der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum: Am vergangenen Mittwoch war der renommierte israelische Schoa-Forscher und ehemalige Leiter der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, Yehuda Bauer, zu Gast in der Oranienburger Straße. Der 93-Jährige war einer Einladung der Direktorin des Centrum Judaicum, Anja Siegemund, gefolgt, um über sein Lebenswerk zu sprechen.
»Es ist mir wirklich eine große Ehre, Sie, lieber Herr Bauer, als Gast in Berlin begrüßen zu dürfen«, sagte Siegemund. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) bezeichnete Bauers Werk in ihrem Grußwort als wegweisend für die Entwicklung der modernen Forschung über die Schoa. »Die Stimme Yehuda Bauers hat in Wissenschaft und Politik gleichermaßen Gewicht«, sagte Pau.
LIVESTREAM Das Interesse der Öffentlichkeit am Auftritt Yehuda Bauers war enorm. Der Veranstaltungssaal reichte nicht aus, um allen Interessierten einen Sitzplatz zubieten, sodass in einem anderen Raum das Gespräch per Livestream übertragen wurde.
Zu Beginn des Gesprächs, das von Siegemund und Stefanie Schüler-Springorum, der Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, moderiert wurde, sagte Yehuda Bauer, dass er als junger Historiker Angst hatte, sich mit dem Massenmord an den europäischen Juden zu beschäftigen. »Es war für mich immer schrecklich schwer, Zeugenberichte über den Holocaust zu lesen«, sagte Bauer in einwandfreiem Deutsch, seiner Muttersprache. »Denn ich war ja nicht dabei, ich war zu der Zeit, als der Genozid passierte, in Haifa.«
»Es war für mich immer schrecklich
schwer, Zeugenberichte über den
Holocaust zu lesen«, sagte Bauer.
1926 als Martin Bauer in Prag geboren, war er mit seinen Eltern im März 1939 über Rumänien und die Türkei nach Palästina emigriert. Seine Eltern waren überzeugte Zionisten, die bereits zu Beginn der 30er-Jahre Alija machen wollten. Dass sie das Visum zur Einreise nach Palästina in dem Jahr bekamen, in dem die Wehrmacht die Tschechoslowakei besetzte, war reiner Zufall.
In Haifa machte Bauer das Abitur. Später studierte er an der Universität Cardiff in Wales Geschichte. Bauer kämpfte im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 und lebte danach mehrere Jahre in einem Kibbuz. Seine Karriere als Wissenschaftler begann er an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Von 1996 bis 2000 war er Leiter des International Center for Holocaust Studies in Yad Va-shem, wo er bis heute als wissenschaftlicher Koordinator tätig ist.
PARTISANEN Bauer widmet sich seit nunmehr 60 Jahren intensiv der Erforschung der Schoa. Dass es dazu kam, habe viel mit einer Begegnung mit dem aus Litauen stammenden Partisanenkämpfer und Schriftsteller Abba Kowner zu tun, wie Bauer am Mittwoch erzählte.
Bauer widmet sich seit nunmehr 60 Jahren intensiv der Erforschung der Schoa.
»Bei einer Unterredung hatte Kowner mich gefragt, was das bedeutendste Ereignis der letzten 100 Jahre in der jüdischen Geschichte sei«, erzählte er. »Der Holocaust natürlich«, habe er geantwortet. »Und warum befasst du dich nicht damit?« – »Ich habe Angst.« Angst sei Kowner zufolge aber eine gute Voraussetzung für die Beschäftigung mit der Schoa. »Mit der Zeit konnte ich meine Angst auch überwinden«, sagte Bauer.
Zu Beginn seiner Forschungen hat der Historiker viele Interviews mit Zeitzeugen geführt. Auch auf ihren Erzählungen baute er seine These auf, dass der Zweite Weltkrieg primär als Krieg gegen die Juden begonnen wurde. »Ohne den in der NS-Ideologie immanenten Antisemitismus kann man nicht erklären, wie es zu diesem singulären Genozid kommen konnte.«
Einzigartig müsse die Schoa nicht sein. »Die Schoa ist ein Präzedenzfall, der sich wiederholen kann.« Vor diesem Hintergrund mache ihm das Erstarken des Antisemitismus in vielen Ländern ebenso Sorgen wie der islamisch geprägte Juden- und Israelhass, der sich in Europa ausbreite. »Nur eine Allianz zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Demokraten kann dem islamischen Antisemitismus die Stirn bieten.« Am Ende des Abends gab es für den Ehrengast aus Israel minutenlangen Applaus.