Es gibt diese Momente im Leben, in denen man keinen Augenblick überlegen muss. Und das war ein solcher: Alexander Rosenbaum kommt nach Deutschland! Für mich stand nicht eine Sekunde außer Frage, dass ich hinfahren würde, um ihn zu hören. Schließlich sind seine Lieder nicht einfach nur Chansons. Sie sind mein Leben. »Sing wie die Brandung an der Küste klingt« – seine Texte sind so toll!
Also habe ich mir ein Ticket gekauft und bin von Leipzig aus mit dem Zug quer durch Deutschland gefahren. Und dann, in Offenbach, war alles wieder da: meine Jugend, die Konzerte, diese aufregend schöne Zeit Ende der 80er. Und dazu die bange Frage, ob mich Rosenbaum als Star nach so vielen Jahren überhaupt wiedererkennen würde. Ich hatte drei Jahre lang als seine Sekretärin gearbeitet. Aber doch: Er hat mich erkannt. Ich hätte mir wohl nie verziehen, wenn ich nicht gefahren wäre.
orientierung Das klingt jetzt ein wenig melancholisch. So, als ob ich noch immer sehr an Russland hänge. Das ist aber eigentlich überhaupt nicht so. Im Gegenteil. Im Grunde genommen habe ich damit abgeschlossen. Ich sage immer: Wer in einem neuen Land glücklich werden will, der muss sich nach vorn orientieren. Ich schaue deshalb kein russisches Fernsehen, lese nur deutsche Bücher, und in meinem Alltag spreche ich fast ausschließlich Deutsch. Bei Juri, meinem Mann, ist es ein wenig anders. Seine Eltern leben noch in St. Petersburg, sodass er jedes Jahr dorthin reist und noch viele Kontakte nach Russland hat.
Sechs Jahre haben wir auf die Ausreise gewartet. Als wir 1998 in Berlin ankamen, wusste ich sofort: Das hier ist meins! Das ist alles so unglaublich ordentlich, so korrekt und sauber. Man vereinbart einen Termin, wenn es etwas zu klären gibt. Ja, das funktioniert hier tatsächlich. Ich wollte von Anfang an in Deutschland heimisch werden. Ich habe Sprachkurse und Computerausbildungen belegt, nächtelang gelernt. Ich wollte diese Chance auf ein neues Leben nutzen. Und ich denke, es hat geklappt. Ich habe nicht einen Tag lang bereut, diesen Schritt gegangen zu sein.
Geboren wurde ich 1962 im damaligen Leningrad. Meine Familie war ganz durchschnittlich: Mutter Erzieherin, Vater Ingenieur. Wir wohnten in einer kleinen Genossenschaftswohnung, zu fünft auf 40 Quadratmetern. Das Judentum spielte keine Rolle. Meine Oma sprach zwar noch Jiddisch und ging manchmal in die Synagoge, aber nur, um etwas einzukaufen.
Für mich bestand die einzige Berührung mit dem Judentum darin, dass ich trotz mehrerer bestandener Aufnahmetests einfach keinen Studienplatz bekam. Es war angeblich immer jemand besser als ich. Über Umwege habe ich es dann doch geschafft und konnte an einer Fachschule Chemie studieren. Aber als Diplom-Verfahrenstechnikerin zu arbeiten, hätte mir keinen Spaß gemacht. So war ich eine ganze Zeit lang als Kulturverantwortliche, erst an der Fachschule, dann in einem Klubhaus tätig.
Konzert Das war auch jene Zeit, in der ich die ersten Tickets für Alexander Rosenbaum erhielt. Seine Konzerte wurden auf den Plakaten zunächst ohne Namen angekündigt – weil er Jude ist. Mit meiner Freundin bin ich dann zu fast jedem Konzert gegangen. Eines Tages fragte uns Rosenbaum, ob wir ihm nicht im Büro helfen könnten. Aus der Freizeitbeschäftigung wurde später ein Job. Wir erstellten Lieder- und Konzertbücher – und genossen jeden Tag.
1989 habe ich dann Juri geheiratet, der als Telefonmonteur bei den kommunalen Verkehrsbetrieben arbeitete. Drei Jahre später kam unsere Tochter Alexandra zur Welt. Und auch, wenn das zu Beginn der 90er eine wirklich schwere Zeit war, hatten wir doch eine unglaublich intensive Phase in der Familie. Aber alle in unserem Umfeld verließen das Land. Also gingen eines Tages auch wir. Und meine Mutter kam mit.
Heute führe ich ein neues Leben. Durch unseren Hausvermieter, einen Rechtsanwalt, ergab sich die Möglichkeit, dass ich an einem Weiterbildungskurs teilnehmen konnte und eine befristete Stelle bekam. Als nach ein paar Wochen in der Kanzlei plötzlich eine Stelle frei wurde, erhielt ich das Angebot, dort dauerhaft zu arbeiten.
So bin ich nun schon seit mehr als fünf Jahren in der Anwaltskanzlei als Sachbearbeiterin für Insolvenzrecht beschäftigt. Das ganze Wissen habe ich mir Stück für Stück angeeignet. Es geht um Privatinsolvenzen. Ich führe Gespräche mit Mandanten, begleite sie bei der Abwicklung, nehme die Termine bei Gericht wahr, erledige den Schriftkram.
schuldnerberatung Ich hätte nie gedacht, dass es in Deutschland derart viele Leute mit so hohen Schulden gibt. Manche kommen mit einem Karton ungeöffneter Briefe und erklären mir, dass sie da noch nie reingeschaut haben. Andere haben alle Rechnungen ordentlich abgeheftet und können nicht zahlen. Manche Ehepaare bestehen aus zwei ALG-II-Empfängern, die von der Bank einen Kredit für ein neues Haus erhalten haben. Unglaublich! Einige sind aber auch krank oder arbeitslos geworden und in die Schulden geraten. Und manche haben einfach alles bestellt: Küche, Auto, Urlaubsreisen. Da kann man nur den Kopf schütteln.
Im Grunde genommen bin ich auch ein bisschen Sozialarbeiterin. Jeden Tag höre ich neue Lebensgeschichten. Es fällt mir schwer, beim Verlassen des Büros abzuschalten. Pünktlich gehe ich sowieso nie. Meine Kollegen sagen zwar immer zu mir, dass die Kanzlei kein Krankenhaus sei und man hier keine Not-OP durchführen könne. Aber die Schicksale gehen mir eben sehr nah. Und anderen zu helfen, tut ja auch gut.
Immerhin ist die Aussicht, nach sechs Jahren seine Schulden los zu sein, eine fantastische Gelegenheit. Aber es gibt eben auch viele, die einfach überfordert sind. Ich merke das, wenn ich im Stadtteil Grünau bin. Einmal die Woche übernehme ich in dem Plattenbau-Viertel bei der AWO die Schuldnerberatung. Wenn ich durch das Viertel gehe, grüßt mich etwa jeder Dritte. Ich denke, dass viele über Empfehlungen zu unserer Kanzlei kommen. Zuletzt hat sich sogar eine Frau aus Worms bei mir gemeldet.
Chor Für mich selbst bedeutet das aber auch, dass ich eigentlich immer erst nach acht Uhr abends nach Hause komme. Dann bin ich geschafft und freue mich, wenn mein Mann etwas Leckeres gekocht hat. Und dann will ich einfach nur noch eine CD hören oder ein wenig fernsehen. Die knappe Zeit, die mir noch bleibt, hat auch dazu geführt, dass mein Verhältnis zur Gemeinde etwas loser geworden ist. Früher habe ich im Chor mitgesungen, aber das schaffe ich inzwischen nicht mehr.
Ich freue mich, wenn wir in der Familie etwas unternehmen können. Ich besuche regelmäßig meine Mutter. Und meine Tochter, die jetzt 20 ist, wohnt auch bei uns zu Hause. Sie hat die Schule beendet und möchte gern Bestattungsfachkraft werden. Durch ein Praktikum hat sie sich für diesen Beruf begeistert. Aber wir finden keinen Ausbildungsplatz.
Kürzlich war ich mit meinem Mann für ein paar Tage in Bad Harzburg. Herrlich! Ein super Hotel, Massage, Pool und Sauna. Und dazu die Natur! Man braucht solche Auszeiten, auch wenn der Job toll ist und mir viel Befriedigung verschafft. Aber sich selbst mal was zu gönnen und etwas anderes zu sehen, ist so wichtig. Ich kann das nur schwer in Worte fassen. Aber vielleicht ist es ja so, wie es Alexander Rosenbaum beschreibt: »Komm bei uns auf einen Sprung vorbei. Denn die Geige singt so sanft und zärtlich. Heute Abend ist es einerlei.«
Aufgezeichnet von Steffen Reichert.