Am 7. Oktober 2023 habe ich mit Freunden in Jerusalem Simchat Tora gefeiert. Drei Tage später wollte ich nach Berlin fliegen, wo sich die Zentrale jener Firma befindet, die ich zwei Jahre zuvor mit einer Geschäftspartnerin gegründet hatte. Erst später am Abend erfuhren wir, was sich Grausames ereignet hatte. Mir war sofort klar, dass ich etwas machen musste, und glücklicherweise bin ich in Israel gut vernetzt. Schon am nächsten Tag hatten wir über WhatsApp Zugang zu den Familien von Geiseln und begannen, eine Liste von dringend benötigten Medikamenten zusammenzustellen.
Diese sollten über das Internationale Rote Kreuz beschafft und den Geiseln ausgehändigt werden. Dies mag man naiv nennen, aber das war die Idee. Tatsächlich gestaltete sich das zunächst schwierig. Einige Tage später bat mich der Krisenstab der israelischen Regierung, ihnen die Liste zu übergeben. Ich habe mich nicht geärgert, dass sie nicht selbst auf diese Idee gekommen waren, vielmehr habe ich das als Ehre empfunden. Wir haben getan, was wir tun konnten.
Zehn Jahre in Moskau
Die ersten zehn Jahre meines Lebens habe ich in Moskau verbracht. Dann reiste meine Familie mit mir aus der Sowjetunion aus, zunächst nach Wien. Meine Großeltern, der Zwillingsbruder meiner Mutter und auch meine ältere Schwester reisten direkt weiter nach Israel. Meine Eltern aber wollten eigentlich in die USA. Da es dort seinerzeit einen Zuzugsstopp gab, kamen wir im November 1990 nach Berlin.
Im Gegensatz zu vielen sowjetischen Juden gehörte meine Familie nie zu denen, die ihr Judentum versteckten. Mein Vater kam aus der Ukraine, und seine Eltern sprachen mit ihm noch Jiddisch. Der Großvater meiner Mutter ist in einer Moskauer Synagoge Gabbai gewesen. Hinzu kam, dass meine Mutter mit Nachnamen Shapiro hieß, da gab es nichts zu verstecken. Heimlich hörten wir den verbotenen Radiosender »Kol Israel«. Als klar war, dass wir wegziehen würden, schickte man mich auf die jüdische Schule, die Chabad kurz zuvor in Moskau eröffnet hatte.
Dort habe ich Hebräisch gelernt und meine zionistische Seele entdeckt. Ohne je in Israel gewesen zu sein, habe ich mich leidenschaftlich in das Land verliebt. Später reiste ich von Berlin aus erstmalig zu einem Machane dorthin. So konnte ich meine Schwester und den Rest der Familie wiedersehen. Eigentlich wollte ich direkt nach dem Abitur auch nach Israel, mein Vater aber hat mich gebeten, erst noch ein Studium hier in Deutschland zu machen. Also habe ich Kommunikationsmanagement studiert und damit meinen Teil der Abmachung erfüllt.
Nach einem dreimonatigen Praktikum beim Joint Distribution Committee in Argentinien ging es endlich nach Israel. In den Jahren zuvor bin ich oft auch ohne meine Eltern nach Tel Aviv geflogen, habe meine Ferien dort verbracht und im Ulpan Iwrit gelernt. Nun aber war es eine offizielle Alija.
Mein Traum war es, bis zum 30. Geburtstag eine eigene PR-Agentur zu haben.
Als Europäerin konnte ich mir in Israel nur ein Leben in Tel Aviv vorstellen. Dann aber lebte ich zehn Jahre in Jerusalem. Ein Grund war zunächst der, dass die World Union of Jewish Students ihren Sitz dort hatte. Schon während meines Studiums in Deutschland war ich in jüdischen Studentenverbänden aktiv gewesen. Nach meiner Alija habe ich mich dann um die Präsidentschaft dieser Organisation beworben. Ende 2004 bin ich auf dem Kongress in Haifa auch gewählt worden.
Mit internationalen Erfahrungen punkten
Ich war zwar erst 24 Jahre alt, konnte aber mit einigen internationalen Erfahrungen punkten. Immerhin hatte ich schon ein Semester beim Joint in Frankreich verbracht, dann das Praktikum in Argentinien gemacht, und in den USA war ich in Machanot als Madricha tätig. Ich sprach Russisch, Englisch, Deutsch, Hebräisch und Französisch. Nun war ich also eine offizielle Repräsentantin, und als solche wurde ich zu allen möglichen hochkarätigen Events eingeladen. Am 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz habe ich sogar eine Rede gehalten, seinerzeit noch in Anwesenheit von Putin und dem damaligen ukrainischen Regierungschef.
Während meiner Präsidentschaft bin ich, um ein Beispiel zu nennen, mit einer Gruppe nichtjüdischer Studenten aus Deutschland in Israel unterwegs gewesen und auch in Ramallah. Das war kurz nach der Intifada. Sie sollten lernen zu verstehen, in welcher Realität wir in Israel leben. Mir ging es darum, Zeichen zu setzen für eine interkulturelle Zusammenarbeit.
Ich konnte als Präsidentin nicht mit harter Hand agieren. Mit meinen romantischen Vorstellungen, wir seien alle eins, hatte ich nicht erwartet, dass diejenigen, die anderthalb Jahre zuvor gegen mich die Wahl verloren hatten, einen Putsch organisieren würden. Und das leider mit Erfolg. Das war eine erste wesentliche politische Erfahrung für mich.
Schon während meines Masterstudiums an der Open University in Raanana spezialisierte ich mich auf Public Relations. Zunächst arbeitete ich in der PR-Abteilung einer NGO, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ein differenziertes Bild von Israel zu verbreiten. Dazu gehörte, dass wir oft in einem Hubschrauber flogen, um den internationalen Journalisten optisch zu vermitteln, wie klein und verletzlich unser Land ist. Das hatte jedes Mal eine enorme Wirkung.
Zu unseren Kunden gehörte neben internationalen Hightech-Firmen auch eine ungarische Fluglinie.
Danach wollte ich in die Business-PR gehen und habe angefangen, für eine Agentur im Hightech-Bereich zu arbeiten. Mein Traum war es, bis zu meinem 30. Geburtstag eine eigene PR-Agentur zu haben. Einen Tag vorher habe ich gemeinsam mit einer Geschäftspartnerin diesen Traum verwirklicht. Zu unseren Kunden gehörte neben internationalen Hightech-Firmen auch eine ungarische Fluglinie. Und dann fand im Jahr 2011 die erste Tel Aviv Fashion Week statt. Ein Jahr später repräsentierten wir dieses Event gegenüber den internationalen Modemedien. Die Designer hatten die unterschiedlichsten Hintergründe.
Aktivistische Seele
Da gab es die Religiösen, die Russen und Marokkaner, die Homosexuellen, die Araber, die homosexuellen Araber. Wir haben die Geschichte Israels vor dem Hintergrund der Mode erzählt. Ich habe mich total in diese Szene verliebt, habe Modeschauen produziert, die Designer auch im Ausland vertreten, beispielsweise am Rand des Eurovision Song Contest in Wien. All diese Arbeiten habe ich jahrelang sehr gern gemacht. Irgendwann aber trat meine aktivistische Seele wieder in den Vordergrund. Ich fing an, mir die Frage zu stellen, was eigentlich mit all den Textilien passiert, die nicht verkauft werden.
Dabei stellte ich fest, dass keine israelische Technologie existiert, die sich um den Abfall kümmert. Vor fünf Jahren habe ich dann eine Designerin kennengelernt, die sich auch mit diesen Fragen beschäftigt und die heute meine Geschäftspartnerin ist. Erst dachten wir daran, Beraterinnen für dieses Problem zu werden. Wie aber soll man beraten, wenn es keine Technologie gibt, um das Problem zu lösen?
In der Corona-Zeit haben wir begonnen, aus recyceltem Material Masken zu produzieren. Dann kam uns die Idee eines Mikrosystems, mit dem man Textilabfall lokal verarbeiten könnte. Man müsste also den Abfall der Modeindustrie nicht mehr um die halbe Welt transportieren, um irgendwo deponiert und verbrannt zu werden. Also haben wir ein Konzept entwickelt, wie man durch eine Aneinanderreihung von Maschinen die Textilien zu nahezu 100 Prozent in recycelbare Rohstoffe verwandeln kann.
Allerdings war man in Israel noch nicht so weit, ein solches Projekt zu fördern. Gleichzeitig hörten wir davon, dass es ab 2025 in der EU verboten sein würde, Textilien wegzuwerfen. So kam ich Ende 2021 nach Berlin zurück, wo sich seither der Business-Teil unseres Unternehmens befindet. Die Produktion hingegen findet in allen Teilen Deutschlands und auch in Frankreich statt.
Der Aufbau unserer Firma hat zwei Jahre gedauert, und seit einiger Zeit reise ich regelmäßig zwischen Israel und Berlin hin und her – zwischen dem Land, das meine Heimat ist, und der Stadt, wo meine Eltern noch immer in Reinickendorf wohnen.
Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg