Nach dem Ende von Weltkrieg und Schoa hat sich viel im jüdischen Leben und für das jüdische Leben in Deutschland geändert. 1945 stand bei den meisten Juden in Deutschland der Wunsch im Vordergrund, das Land der Täter so schnell wie möglich zu verlassen. Doch das gelang nicht immer. Die jüdische Bevölkerung gründete Existenzen und Familien, blieb zunächst allerdings weitgehend unter sich.
So umriss Charlotte Knobloch bei einem Generationen-Gespräch die ersten Jahrzehnte jüdischen Lebens in Bayern nach dem Holocaust. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften hatte am vergangenen Donnerstag zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, an der neben der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) auch Michael Brenner, Lena Gorelik und Lena Prytula teilnahmen, wobei Brenner und Gorelik über Livestream zugeschaltet waren. Die vier Persönlichkeiten repräsentierten vier unterschiedliche Generationen – von der Zeitzeugin bis zur Studentin.
Nach der Begrüßung durch Akademiepräsident Thomas O. Höllmann und kurzen Grußworten des Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung, Ludwig Spaenle, und des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, führte Ilanit Spinner vom Bayerischen Rundfunk durch den Abend.
umfrage Fast jeder zweite Deutsche ist noch nie mit jüdischem Leben in Berührung gekommen – das ergab jüngst eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey. Für Bayern gilt das in besonderem Maße, denn in ländlich geprägten Regionen gibt es weniger jüdische Gemeinden. Auch das Wissen über das Judentum beschränkt sich vielfach auf die Themen Schoa, Antisemitismus und Nahost-Konflikt. Der Abend sollte nun zeigen, wie Jüdinnen und Juden ihren Glauben und ihre Kultur heute leben.
Die erste Frage der Moderatorin an die Podiumsteilnehmer lautete deshalb: »Was bedeutet für Sie Judentum?« »Darüber kann man lange sprechen«, meinte Charlotte Knobloch und fasste sich dann ganz kurz: »Religion, Tradition, Gemeinschaft und der Stolz«.
Sie habe das in wenigen Worten sehr gut zusammengefasst, unterstrich Michael Brenner. Der Historiker lehrt Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München und derzeit auch in Washington. Er ergänzte: »Gerade die Lehre, das Studium, die Geschichte spielen eine sehr große Rolle.«
Auch die Jüngste in der Runde, die Studentin und Mitglied im Vorstand der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), Lena Prytula, stellte das Miteinander in den Vordergrund: »Für mich stehen an erster Stelle Lebensfreude, Pluralität, Diversität und Gemeinschaft.«
Die vier Mitwirkenden repräsentieren vier unterschiedliche Generationen.
Diese Werte und viele andere Fragen stehen im Mittelpunkt der neu ins Leben gerufenen Ad-hoc-Arbeitsgruppe »Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart«. Sie wurde bei dieser Podiumsdiskussion vorgestellt. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verhältnis zu Glaube, Tradition, Erinnerungskultur und Antisemitismus sollen in dieser Arbeitsgruppe ebenso ausgelotet werden wie die Frage, was Politik und Gesellschaft leisten müssen, um jüdische Kultur als selbstverständlichen und sichtbaren Bestandteil des Alltags in Bayern stärker zu verankern.
grusswort In einer Zeit, in der die modernen Medien wie Facebook & Co. immer stärker in den Vordergrund rücken, müssen »wir uns ihrer stärker bedienen«, hatte Josef Schuster in seinem Grußwort betont. Das gelte auch für die Ad-hoc-Arbeitsgruppe. Dabei sei auch die richtige Balance zwischen Erinnerung und Gegenwart notwendig.
Mit einem kleinen Filmbeitrag stellte Michael Brenner, der Leiter der Arbeitsgruppe, deren Tätigkeit mit Beispielen aus der Geschichte jüdischen Lebens in Bayern vor. Da ging es um eine berühmte Talmud-Schule in Fürth, um eine Druckerei in Sulzbach. Es wurde an bayerische Viehhändler erinnert und an die Leistungen einzelner Persönlichkeiten wie Levi Strauss, dessen Jeans noch heute die Welt begeistern, auch wenn nur wenige deren Erfinder als Jude wahrnehmen. Ein erster Projektteil werde sich, so Brenner, mit dem Landjudentum im vorindustriellen Zeitalter beschäftigen.
Bei ihrem Rückblick auf die Entwicklung der jüdischen Gemeinden in Bayern sprach Charlotte Knobloch die Bedeutung einer Zukunftsperspektive in Deutschland an. In den Jahren nach der Schoa hätten nur wenige an eine solche geglaubt. Die wiedererrichteten Gemeinden seien von vielen als »Auflösungsgemeinden« angesehen worden. Nur wenige dachten damals anders, wie etwa ihr Vater oder auch der Vater von Josef Schuster.
zuwanderung Der Blick auf eine positive Zukunft, so Knobloch weiter, sei auch von Bedeutung bei der Zuwanderung der »Kontingentflüchtlinge« aus der ehemaligen Sowjetunion gewesen: »Es war wichtig, diesen Menschen eine Zukunft zu geben.« Unter diesen Zuwanderern war auch die heute erfolgreiche Schriftstellerin Lena Gorelik. Sie kam als Elfjährige mit ihren Eltern nach Deutschland.
Bei der Podiumsdiskussion wurden aber auch Fragen angeschnitten, die von außen immer wieder an die jüdischen Gemeinden herangetragen werden: Schoa, Antisemitismus und Nahost-Konflikt. Dass diese Themen auch eine gewisse Zukunftsangst beinhalten, bestätigte Lena Prytula. Natürlich achtet sie auf ihre Sicherheit. Ihre Kette mit dem Davidstern – ein Geschenk ihrer Mutter – trägt sie stets, allerdings nicht immer sichtbar. Sie ist für sie ein Familiensymbol, etwas Traditionelles und Persönliches.
Bei der Podiumsdiskussion wurden auch Fragen angeschnitten, die von außen immer wieder an die jüdischen Gemeinden herangetragen werden: Schoa, Antisemitismus und Nahost-Konflikt.
Weil so wenige Menschen in Deutschland etwas über das Judentum wissen oder gar einen Juden kennen, ist die Studentin im Projekt »Meet a Jew« des Zentralrats der Juden engagiert. Hier findet Begegnung statt. Es wird nicht über Antisemitismus gesprochen, sondern über die Alltagsthemen, über all das, was die Menschen bewegt, über Umwelt und Sexualität ebenso wie über die Notwendigkeit, sich in Sachen Nachhaltigkeit einzubringen. Das schönste Feedback, so erzählt Prytula, sei es, wenn ihr und ihren Mitstreitern nach einer solchen Begegnung gesagt wird: »Ihr seid ja ganz normal.«
zukunft Was das Thema Antisemitismus betrifft, forderte Charlotte Knobloch: »Die Politik spricht sehr viel darüber, aber das Handeln hätte ich gerne noch etwas intensiver gesehen.« Das Problem sei kein rein deutsches, ergänzte Michael Brenner, es bestünde weltweit. Auch in den USA müssten Synagogen bewacht werden.
Wie also solle man sich verhalten, was wünschen sich die Podiumsteilnehmer von der Zukunft? Die Schriftstellerin Lena Gorelik denkt nicht daran, Deutschland deshalb zu verlassen. Auch Lena Prytula meint, sie habe in den zurückliegenden Monaten einen Kampfgeist entwickelt: »Ich lasse mir mein Zuhause nicht wegnehmen.«
Viele Juden dächten aber anders, so Charlotte Knobloch. Sie wollten nicht noch einmal erleben, was während der Schoa ihnen und ihren Familien zugestoßen ist. »Die Euphorie, die vor zehn, vor 15 Jahren das jüdische Leben begleitet hat, sehe ich nicht mehr. Ich weiß nicht, was morgen geschieht.«
aufklärungarbeit Die Politik schlage einen verpflichtenden Besuch von Schulklassen in einer KZ-Gedenkstätte vor, bemerkte Ilanit Spinner. Könne das helfen, Antisemitismus abzubauen? »Mit Verpflichtung ist das so eine Sache«, konterte Brenner. Verpflichtung klinge nach aufgezwungen. Damit mache man es sich zu einfach. Die Lehrer seien hier in puncto Aufklärungsarbeit gefordert.
Und Charlotte Knobloch erinnerte daran, dass sie während der Schoa ihre Heimat verloren hat – es habe lange gedauert, bis sie die sprichwörtlichen Koffer ausgepackt habe. Sie wünscht sich, dass junge Leute das für sich auch so entscheiden könnten.