Ich arbeite viel. Mir fällt es schwer, mal nichts zu tun. Mein Problem ist, dass ich nicht abschalten kann. Immerzu geht mir etwas durch den Kopf: Dinge, die ich erledigen muss, und Ideen, die ich umsetzen möchte. Ich arbeite von Montag bis Sonntag. Einen Ruhetag habe ich nicht. Eigentlich bin ich Steuerfachangestellte, aber ich arbeite in ganz anderen Bereichen.
Ich bin bei einem Pflegedienst angestellt und habe seit sechs Jahren eine Immobilienfirma. Außerdem führe ich die Geschäfte der Jüdischen Gemeinde Hanau und bin Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins »Alle zusammen«. In Hanau, Frankfurt und auch in anderen Städten bietet unser Verein unterschiedliche Kurse für Kinder und Jugendliche an.
Kalender Ich stehe jeden Tag um sechs Uhr auf. Dann trinke ich Tee und esse ein belegtes Brötchen. Anschließend arbeite ich all die Dinge ab, die ich geplant habe. Natürlich kommen ständig Änderungen und Ergänzungen dazu. Da ich zu den altmodischen Menschen gehöre, benutze ich keinen elektronischen Kalender. Technik traue ich nicht so recht. Bei mir wird alles handschriftlich notiert.
Meine Tage verlaufen sehr unterschiedlich und abwechslungsreich. Heute zum Beispiel stehen ein paar Termine für die Immobilienfirma an und einer bei der Krankenkasse. Dort habe ich etwas für die Patienten des Pflegedienstes zu erledigen. Für sie bin ich telefonisch immer da. Rund um die Uhr können sie mich erreichen.
Sonntags arbeite ich die Unterlagen für unseren Verein ab. Die Buchhaltung mache ich selbst. Ich arbeite viel, vielleicht auch, um keine Zeit zu haben, über mein Privatleben nachzudenken. Aber ich arbeite auch gerne. Damit habe ich früh begonnen. Schon als Kind habe ich meinem Opa geholfen. Er hatte einen Fellhandel, da gab es immer irgendetwas zu tun für mich. Auch meinem Vater half ich, als er ein Geschäft hatte.
Weil meine Eltern beide krank und behindert waren, musste ich für die Familie das Geld verdienen. Mein Vater ist vor ein paar Jahren gestorben, er war herzkrank. Und meine Mutter ist jetzt bettlägerig. Vor ein paar Wochen ist sie gestürzt und hat sich das Bein gebrochen. Seit ihrem Schlaganfall kommt zweimal am Tag jemand vom Pflegedienst, und natürlich kümmere auch ich mich um sie. Sie wohnt in einer eigenen Wohnung auf meiner Etage. Ich schaue mehrmals am Tag bei ihr vorbei.
Haushalt Seit meinem 16. Lebensjahr arbeite ich Vollzeit, zuerst in einem Metallhandel, dann in einem Lebensmittelgeschäft. Später wurde ich Geschäftsführerin im Groß- und Einzelhandel. Drei Monate nach der Geburt meiner Tochter habe ich wieder angefangen zu arbeiten, als Sekretärin. Mir gefällt es, erwerbstätig und Geschäftsfrau zu sein. Aber ich bin eine schlechte Hausfrau. Natürlich mache ich den Haushalt, aber nicht so gut wie andere Frauen. Ich koche auch nicht gerne.
Samstags bin ich immer bei unserem Verein in Frankfurt, es sind dort mehr als 250 Kinder angemeldet. Wir bieten viele Kurse an – von Russisch und Englisch bis zu Nachhilfeunterricht in Mathe und Physik. Bevor ich gegen 8.30 Uhr nach Frankfurt aufbreche, backe ich zu Hause 30, 40 Brötchen auf – für unsere Cafeteria dort. Die Eltern, die ihre Kinder bringen, können während der Kurse frühstücken und sich miteinander unterhalten. Das ist dann wie so ein Elternklub.
Ich bin dort bis etwa 14 Uhr. Danach habe ich meistens Termine für die Immobilienfirma, führe Interessenten durch Wohnungen und Häuser. Ich habe auch Kunden, für die ich Objekte ersteigere, vor allem für Leute aus der Ukraine, die hier ihr Geld in Immobilien anlegen möchten, weil die Wirtschaft in Deutschland stabiler ist.
Dienstags und donnerstags bin ich in der Gemeinde. Da ist von zehn bis 14 Uhr Sprechstunde. Und jeden Freitag gehe ich zum Schabbes, derzeit bin ich immer so ab 16 Uhr da. Manchmal veranstalten wir Ausflüge für die Gemeindemitglieder und auch Feste, das alles muss organisiert werden. Ich kann nicht sagen, dass ich besonders religiös bin. Aber ich finde, Religion ist wichtig. Deswegen bin ich auch in der Gemeinde.
Auswanderung Gemeinsam mit meinen Eltern, meiner Großmutter und meiner Tochter bin ich 1998 nach Deutschland gekommen. Ich weiß das Datum noch genau: 3. September 1998. Das war ein Schock! Wir haben ja nichts verstanden.
In dem Wohnheim, wo wir zunächst untergebracht waren, gab es eine nette Familie, die hat uns sehr geholfen. Ich habe zwar einen Deutschkurs besucht, das meiste habe ich mir aber selbst beigebracht. Jeden Tag habe ich 50 Wörter gelernt, am nächsten Tag konnte ich mich vielleicht an nur fünf oder sechs davon erinnern. Ich habe aber weitergemacht und wieder 50 Wörter gelernt.
Seit ich in Deutschland lebe, war ich kaum im Urlaub. Ich bin nur dreimal verreist, immer mit meiner Tochter. Einmal waren wir in Bad Soden-Salmüster, dann in einem Wellness-Hotel in Fulda und in Spanien, zwei Wochen Pauschalurlaub.
Ich mache keinen Urlaub, weil ich dafür zu wenig Zeit habe, aber auch, weil ich nicht allein verreisen möchte. Ich habe leider keinen Partner. Mein Freund, mit dem ich lange zusammengelebt habe, ist gestorben. Er war 30 Jahre älter als ich, ein Deutscher, der Leiter der Schule, auf die meine Tochter ging. Vor etwa drei Jahren hatte er einen Herzinfarkt und hat es nicht überlebt. Er war ein sehr, sehr guter Mensch, für meine Tochter wie ein Vater. In den zehn Jahren mit ihm war ich glücklich.
Es ist sehr schwierig, einen passenden Mann zu finden. Ich war zweimal verheiratet. Das erste Mal als 18-Jährige. Das war bei uns in der Ukraine so üblich. Mit 19 Jahren wurde ich Mutter, und als meine Tochter drei Monate alt war, da haben mein Mann und ich uns getrennt. Die zweite Ehe hat auch nicht lange gehalten.
Inzwischen ist meine Tochter 20 Jahre alt und geht ihre eigenen Wege. Seit zwei Jahren lebt sie in Bonn. Dort hat sie bessere Möglichkeiten. Sie hat zunächst bei Bekannten gewohnt, ihr Abitur gemacht, und sie wird auch in Bonn studieren. Psychologie. Wir telefonieren jeden Tag und sehen uns oft. Entweder sie kommt, oder ich fahre zu ihr. Ich setze mich, meistens am Samstag, morgens in den Zug, verbringe den Tag mit ihr – wir bummeln, gehen essen –, und abends komme ich wieder zurück.
Entspannen Mein Arbeitstag geht mitunter bis 22 Uhr, manchmal auch länger. Doch es ist nicht so, dass ich von morgens bis abends nur arbeite. Es gibt zwischendurch immer wieder Luft, vor allem am Wochenende. Einen ganzen Tag frei zu haben, das kann ich mir nicht vorstellen.
Ich brauche das nicht, ich muss immer etwas tun. Da ich mein Büro zu Hause habe, fällt mir, selbst wenn ich mal abschalten will, immer irgend etwas ein. Wenn ich entspannen möchte, gehe ich zu meiner Mutter rüber. Sie hat eine Satellitenschüssel, ich kann also russisches Fernsehen schauen. Ein guter Film, das ist für mich Entspannung. Und wenn ich mit meiner Tochter telefoniere oder mich mit meiner Freundin unterhalte, dann entspanne ich mich auch.
Wenn ich einen Lebensgefährten hätte, würde ich vielleicht weniger arbeiten. Ich wünsche mir eine Partnerschaft. Mag sein, dass ich altmodisch bin, aber ich glaube an die große Liebe. Ich wünsche mir, dass alle aus meiner Familie gesund sind, meine Tochter glücklich wird, ich meine Projekte umsetzen kann – und dass es mit dem Privatleben klappt.
Aufgezeichnet von Canan Topçu