Jom Haschoa

»Die Putzfrau hat mich gerettet«

Alexej Heistver erzählt, wie Kinder im KZ Kaunas für grausame medizinische Experimente missbraucht wurden. Foto: Rolf Walter / xpress.berlin

Im Erdgeschoss des Hauses am Senefelderplatz befindet sich ein in der Gegend beliebtes Restaurant, in dem es, egal zu welcher Uhrzeit des Tages, laut und hektisch zugeht. Der Zugang zu den oberen Etagen des Hauses liegt ein paar Meter weiter in einer ruhigeren Seitenstraße.

Dort gelangt man über ein kleines eisernes Tor in den ersten Stock, wo sich das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der ZWST mit anderen Einrichtungen Räumlichkeiten teilt. Hierhin lud die Claims Conference anlässlich des Jom Haschoa zu einem sehr persönlichen Salon der Erinnerung ein.

Die Initiative »Zikaron BaSalon« entstand im Jahr 2010. Seither laden jedes Jahr zum israelischen Holocaust-Gedenktag weltweit Menschen in ihr Zuhause ein, um den Bericht eines Schoa-Überlebenden zu hören. Erinnerung und Gedenken sollen so aus dem sehr formellen, offiziellen und nicht selten ritualisierten Rahmen herausgelöst und in ein ganz persönliches Umfeld eingebettet werden. Die in Israel entstandene Initiative, die seit ihrer Gründung mehrere Hundert Salons mit Überlebenden weltweit durchgeführt hat, möchte das Format auch in Deutschland bekannter machen.

dokumente Zu Gast im Erinnerungssalon in Berlin am Vorabend von Jom Haschoa am Dienstag vergangener Woche war Alexej Heistver, 1941 im litauischen Kaunas geboren, Historiker und Vorsitzender des Vereins »Phönix aus der Asche«, der sich um in Deutschland lebende Schoa-Überlebende aus der ehemaligen Sowjet­union kümmert. Die Moderation des Abends übernahm Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen), der sich mit der Initiative »ZedekGerechtigkeit« explizit für eine Verbesserung der Situation von jüdischen Zuwanderern einsetzt.

Obwohl kein privates Wohnzimmer, hat der Raum, in den die Claims Conference geladen hat, doch Salon-Charakter. Auf Sofas und Stühlen sitzen die Gäste zusammen mit Alexej Heistver um den Tisch herum. Heistver erzählt seine Geschichte nicht zum ersten Mal. Er ist es gewohnt, als Zeitzeuge aufzutreten, hat unter anderem vor Schulklassen gesprochen und an Bildungsfahrten und -projekten mit Jugendlichen teilgenommen.

An seine Eltern erinnern
kann er sich nicht mehr –
er war damals ein Baby.

Auf den Abend hat er sich vorbereitet. Vor ihm liegt eine Mappe, in der er sorgfältig Fotografien, Zeitungsausschnitte und Archivdokumente abgeheftet hat. Er zieht eine Urkunde heraus. »Hier ist mein echter Name, Alexandrowitsch, Heistver ist der Adoptivname. Mein Adoptivvater war ein Kriegsjournalist, der mit den sowjetischen Truppen nach Litauen kam. Das ist meine Adoptionsurkunde von 1946, dort steht nur das Geburtsjahr ohne Monat und ohne Tag.«

Ghetto Denn seinen Geburtstag kennt Alexej Heistver nicht. Im Jahr 1941 wurde er in Kaunas geboren, das die Nationalsozia­listen im Sommer des Jahres besetzt hatten. Die jüdische Bevölkerung, etwa 40.000 Menschen, wurde ins Ghetto gepfercht, das zwei Jahre später in ein Konzentrationslager umfunktioniert wurde. Heistver wurde im Ghetto früh von seinen Eltern getrennt. An sie erinnern kann er sich nicht mehr. Vater und Mutter sind ihm fremde Begriffe ohne Inhalt geblieben.

Es ist ihm wichtig zu betonen, dass er zur Zeit der Verfolgung ein Kleinkind war und die Erinnerungen daher fragmentarisch und lückenhaft sind. Nur der ursprüngliche Familienname Alexandrowitsch ist ihm immer im Gedächtnis geblieben. Zusammen mit anderen Kindern, die ihre Eltern verloren hatten, kam Heistver in eine abgetrennte Baracke des Konzentrationslagers Kaunas. Diese stand unter Aufsicht eines Militärarztes, der die Kinder für grausame Experimente missbrauchte, darunter auch willkürliche Amputationen. Der heute 77-Jährige berichtet, wie ihm dort das Gaumenzäpfchen herausgeschnitten wurde und er infolgedessen nicht mehr sprechen konnte.

retterin Die Umstände seiner Rettung aus dem Lager erfuhr Heistver Jahrzehnte später: »In den letzten Tagen des Ghettos hat uns eine Putzfrau aus der Baracke gerettet. Sie hat zusammen mit ihrer Freundin sechs Kinder gerettet. Ein Wächter, ein SS-Mann, hatte ihr gesagt, am nächsten Tag würde die Baracke verbrannt. ›Wenn du die kleinsten Kinder in der schmutzigen Wäsche versteckst, stehe ich in der Nacht da und schaue weg. Aber es muss schnell gehen.‹ Sie erzählte mir diese Geschichte, wie sie sechs Kinder gerettet hatte, im Jahr 1992. Die Schmutzwäsche mit uns Kindern darin wurde in Karren abtransportiert und hinaus zur Wäscherei gebracht, das war 1944. Das Ghetto wurde danach völlig vernichtet, und die anderen Kinder dort kamen ums Leben. Nur wir sechs aus unserer Baracke überlebten.«

Nach Kriegsende kam
Alexej Heistver in
ein Kinderheim in Kaunas.

Nach Kriegsende kam Alexej Heistver in ein Kinderheim in Kaunas. Nach seiner Adoption 1946 lebte er mit seinen Adoptiveltern in Moskau, Irkutsk und Odessa. Dort, so erzählt er, hat er als Neunjähriger seine ersten Worte nach der zwangsweisen Amputation des Gaumenzäpfchens gesprochen.

»Da habe ich zum ersten Mal gesehen, wie ein erwachsener Mensch, der den ganzen Krieg überlebt hat und zweimal verwundet wurde, geweint hat. Das war mitten auf der Straße, als ich die ersten Worte gesagt habe«, beschreibt Heist­ver noch heute gerührt die Reaktion seines Adoptivvaters. Dieser sei, so sagt er, für ihn »ein heiliger Mensch« gewesen.

Die Beziehung zu seiner Adoptivmutter hingegen war sehr schlecht. »Sie war Russin und antisemitisch, obwohl sie mit einem Juden verheiratet war. Sie hat mich oft geschlagen. Deswegen nahm mich mein Vater häufig mit zur Arbeit, auch wenn er auf Dienstreisen fuhr. Das waren für mich die besten Tage.«

nachforschungen Nach seinen Eltern hat Alexej Heistver erst nach dem Tod der Adoptiveltern und nach dem Zerfall der Sowjetunion geforscht. Auf einer Dienstreise nach Israel fand er in Yad Vashem auf einem Mikrofilm aus dem Konzentrationslager Dachau den Namen und Hinweise auf das Schicksal seines Vaters. Chaim Alexandrowitsch wurde wie viele andere Männer aus Kaunas im Sommer 1944 nach Dachau deportiert und dort ermordet.

2012 erhielt der Historiker Heistver aus dem Archiv des Konzentrationslagers Stutthof die Registrierungskarte seiner Mutter. Sorgfältig zieht er eine Kopie davon aus seiner Mappe und reicht sie herum. Unter den persönlichen Angaben ist ihre Größe eingetragen, eine schlanke Statur, graue Augen – und dass sie ein Kind hatte. »Das war die erste Bekanntschaft mit meiner Mutter, und ich habe eine Idee davon bekommen, wie sie aussah. Das war für mich das beste Geschenk.«

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