Von Beruf bin ich Wasserbauingenieurin, aber ich habe nicht einen Tag als solche gearbeitet. Stattdessen kam ich über eine Fortbildung ins damals ganz neue Medium Fernsehen. Ich war beim Sender in meiner Heimatstadt Leningrad für die Organisation und Einhaltung des finanziellen Rahmens zuständig. Heute nennt man das Produzent. Ich habe zwei Spielfilme gemacht, der Rest waren Dokumentationen und Konzerte. Unsere technischen Mittel waren im Vergleich zu heute primitiv.
Bis 1968 war ich beim Fernsehen. Dann wechselte ich zum Kino, in die Produktion von wissenschaftlichen Dokumentarfilmen. Wir haben zu allen möglichen Themen gedreht – vom Weltall bis zur Landwirtschaft. Ich war damals über alle Innovationen im Bilde. Meine Wohnung stand den Kollegen immer offen. Oft lagerte die ganze Apparatur bei mir im Zimmer, und ich wusste manchmal nicht, wohin ich mich schlafen legen soll.
Mit dem Team habe ich die ganze Sowjetunion bereist, kreuz und quer. Bis zu neun Monate im Jahr war ich nicht zu Hause. Natürlich konnte ich bei diesem Nomadentum nicht an Kinder denken. Aber ich reise für mein Leben gern. Wenn ich das Geld dafür hätte, würde ich immer noch die Welt unsicher machen, solange ich auf den Beinen bin und einigermaßen klar im Kopf. Aber mit meinem Einkommen macht man keine großen Sprünge.
Einmal nur war ich während der sowjetischen Zeit beruflich im Ausland – und zwar in Bulgarien. Wir machten zusammen mit den dortigen Kollegen einen Film über Volksmedizin. »Die Natur im weißen Kittel« war der Titel. Es gab eine enorme Resonanz: Galt doch in der Sowjetunion die Volksmedizin als nicht existent. Unser damaliger Gesundheitsminister, der den Film freigeben sollte, behauptete gar: »Ich kenne keinen solchen Begriff!« Er hat uns einige Korrekturen aufgetragen. Als wir mit dem fertigen Streifen ankamen, war er zum Glück gerade nicht da, und sein Stellvertreter nahm uns die Arbeit begeistert ab.
Fernsehen Heute läuft bei mir der Fernseher meist im Hintergrund. Ich gucke vor allem Dokus, Musik- und Wissenschaftssendungen. Leider gibt es auf den russischen Auslandssendern heute so gut wie keine Wissenschaftssendungen mehr. Und meine Deutschkenntnisse sind leider schlecht. Na ja, hin und wieder finde ich etwas, was mich interessiert. Und natürlich lese ich. Ich mag Memoiren und Biografien und habe viele davon. Dann gibt es noch die Bücher, die mir Autoren geschenkt haben und die ich immer wieder zur Hand nehme. Viele meiner ehemaligen Fernsehkollegen schreiben. Ihre Werke lese ich auch. Historische Romane mag ich, aber Krimis und Science-Fiction sind überhaupt nichts für mich!
Manchmal, wenn ich besonders traurig bin, lese ich sogar einen Liebesroman. Man hat die Seite durch und vergisst sofort, worum es ging. Dennoch lenkt es den Kopf ab. Na ja, wenn sich das Leben seinem Ende zuneigt, bleiben einem nur noch solche kleinen Vergnügungen.
Ich vermisse mein tätiges, unstetes Leben sehr. Als ich nach Deutschland kam, war ich schon 66 Jahre alt, und es gab für mich nichts zu tun. Meine Freundin hatte mich überredet, mit ihr und ihrer Familie auszuwandern. Von meinen Verwandten lebte keiner mehr, auch mein Mann war ein halbes Jahr zuvor gestorben. So ließ ich mich nach Köln verschleppen. Ich danke Mama und Papa, dass sie mir so einen unverwüstlichen Charakter vererbt haben. Sonst wäre ich wahrscheinlich depressiv geworden.
Natürlich findet der Mensch immer irgendeine Beschäftigung. Wir haben hier in Köln einen Klub der Liebhaber von Dokumentarfilmen. Der trifft sich einmal im Monat, und ich mache ehrenamtlich bei diesen Veranstaltungen mit. Im Gemeindezentrum Chorweiler gehe ich einmal im Monat zum Geschichtscafé. Die Leiterin macht recht spannende Sachen. Wer etwas über den jeweiligen Themenschwerpunkt weiß, erzählt. Ich halte mich in der Regel zurück, weil ich berufsbedingt meist ein bisschen mehr weiß als die anderen.
Religion In die Synagoge gehe ich nicht, auch nicht an Feiertagen. Ich bin eben in der sowjetischen Zeit groß geworden – und hauptsächlich im russischen Milieu. Meine Bekannten und ich haben nie über die Konfessionen diskutiert: Irgendwie waren wir alle gleich. Zu meinem großen Bedauern kenne ich weder die jüdischen Traditionen noch die Bräuche. Selbst meine Eltern kannten sie nicht.
Ins Gemeindehaus gehe ich nur zu den monatlichen Treffen der Kriegsveteranen und Blockade-Überlebenden. Wir haben im Januar den 70. Jahrestag des Endes der Leningrader Blockade gefeiert. Da hat mir das russische Konsulat als Überlebender eine Medaille überreicht. Auch am 8. Mai gab es einen Empfang.
Ich war elf Jahre alt, als der Krieg begann. Es tut weh, sich daran zu erinnern. Das Schrecklichste war nicht der Hunger, sondern die Kälte. Der Frost erreichte minus 40 Grad. Eine Heizung gab es nicht, man zerlegte die Möbel, verbrannte die Bücher. Wir haben aus aufgetautem Schnee Tee gekocht. Aber ich kann eines sagen: Die Menschen haben sich gegenseitig unterstützt. Manche teilten noch ihren letzten Brotkrümel. Die Leute fielen einfach vor Erschöpfung tot um, und man hatte nicht die Kraft, sie zu begraben. Die Straßen waren voller gefrorener Leichen. Im Frühjahr, nachdem der Schnee aufgetaut war, haben dann alle, von den Kindern bis zu den Alten, die Stadt aufgeräumt, damit keine Seuchen ausbrachen. Das hat uns damals gerettet.
Heimat Einmal im Jahr fahre ich in meine Heimatstadt. Das ist für mich wie Doping. Ich bleibe ein oder zwei Monate dort – in Köln vermisst mich ja keiner. Letztes Jahr war ich allerdings nur zwei Wochen da und bereue das immer noch. Ich wollte meiner 80-jährigen Gastgeberin nicht zur Last fallen, aber das war Unsinn. Ich hätte viel länger bei ihr bleiben können. In dieser Zeit hole ich alles nach, was ich kulturell verpasst habe. Hier in Köln gehe ich zwar ins Theater und in die Philharmonie, aber Gastauftritte russischer Darsteller ziehen mich nicht an. Ich glaube, die meisten geben sich nicht dieselbe Mühe wie zu Hause, sondern sind auf das schnelle Geld aus.
Ich bin immer im Kontakt mit meinen Freunden. Einen Computer habe ich nicht, kein Skype, alles läuft über Telefon. Mindestens einmal die Woche rede ich mit meinen ältesten Freundinnen, die in den USA leben. Unsere Freundschaft währt schon 75 Jahre. Die eine habe ich seit 20 Jahren nicht mehr gesehen, die andere seit zehn Jahren. Leider geht es ihnen nicht gut, sie können nicht herkommen, und ich kann es mir nicht leisten hinzufahren.
freunde Auch innerhalb Deutschlands bin ich schon viel gereist. Ich habe Freunde aus Sowjetzeiten, die heute in Berlin, Stuttgart oder Düsseldorf leben. Sie kommen auch zu mir zu Besuch. In Frankreich habe ich einen sehr guten Freund, er war Mitarbeiter bei »Radio Free Europe«. Hätte ich mir je vorstellen können, irgendwann mit ihm in Paris spazieren zu gehen? Nicht im Traum!
Die Gesundheit schränkt mich noch nicht ein, und ich tue nichts lieber, als mir die Welt anzuschauen. Hätte ich die finanziellen Möglichkeiten, wäre ich jetzt weit weg. Aber ich muss ein wenig sparen und fahre in diesem Jahr nicht einmal nach St. Petersburg. Ich werde nämlich dort 2015 meinen 85. Geburtstag groß feiern. Das ist schon beschlossene Sache, ich habe meinen Freunden mein Wort gegeben. Sie werden die Feier für mich organisieren, ich muss keinen Finger rühren. In diesem Jahr nehme ich deshalb ein Time-out.
Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda