Die jüdischen Gemeinden in Oldenburg und Braunschweig gingen 1995 eigene Wege, und kaum jemand schien mit einem Erfolg zu rechnen, doch es wurde einer: Frauen amtieren in Deutschland als Rabbiner. Ihre Pionierin war die damals 44-jährige Schweizerin Bea Wyler.
Ihre Einstellung initiiert hatte Sara-Ruth Schumann, Gemeindevorsitzende der nur drei Jahre zuvor wiedergegründeten Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg. Aus dem Experiment wurden fast neun Jahre.
Am 1. August 1995 trat Bea Wyler als erste Frau nach dem Holocaust das Amt des Rabbiners in Deutschland an, eine Nachfolgerin der legendären Regina Jonas, die Rabbiner Max Dienemann 1935 zwar ordiniert hatte, die aber nie amtieren durfte.
Debatten Wylers Anstellung löste heftige Debatten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft aus. Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, lehnte es öffentlich ab, einen von einer Frau geleiteten Gottesdienst zu besuchen. Die Deutsche Rabbinerkonferenz verweigerte der Schweizerin die Mitgliedschaft. »Nicht Rabbinerin«, betont Bea Wyler bestimmt, »sondern Rabbiner. Denn so lautet mein akademischer Titel.«
Zentralratsvorsitzender Ignatz Bubis bekundete, nie einen von einer Frau geleiteten Gottesdienst zu besuchen.
Als Bea Wyler 1995 in New York ihr Studium mit der Ordination beendete, waren die Umwälzungen nach dem Fall der Mauer in ganz Europa zu spüren. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wanderten viele Juden nach Deutschland ein. Die Oldenburger kamen von anfangs 34 nach knapp zwei Jahren auf rund 100 Mitglieder.
Traditionnsbewusst Schnell sei dem Gründungskreis um die Vorsitzende Sara-Ruth Schumann klar geworden, dass ein Rabbiner nötig war, um die jüdische Tradition zu bewahren, zu entwickeln und selbstbewusst zu leben, erinnert sich Wyler. Denn die meisten Neuankömmlinge hätten lediglich eine rudimentäre Vorstellung von ihrer jüdischen Tradition gehabt.
Um einen Rabbiner anstellen zu können, kooperierten die Gemeinden in Oldenburg und Braunschweig, auch die Oldenburger Universität richtete eine Teilstelle im Studiengang für Jüdische Studien ein.
»Wir waren Pioniere«, sagt Bea Wyler im Rückblick. Was in großen traditionellen Gemeinden selbstverständlich war, musste in Oldenburg und Braunschweig von Grund auf aufgebaut werden. Einmal im Monat ein Schabbatgottesdienst, mehr war nicht drin, doch die Gemeinden schufen ein zweites Novum: Sie ließen sich von ihrer Frau Rabbiner ausbilden: »Es braucht für einen jüdischen Gottesdienst keinen Rabbiner. Es braucht jüdische Leute, die wissen, wie es geht«, erklärt Bea Wyler.
Nach zwei Jahren gemeinsamen Lernens waren einige Gemeindemitglieder fähig, selbst einen Gottesdienst zu leiten.
Nach zwei Jahren waren so viele Menschen befähigt, einen Gottesdienst zu leiten, dass der Schabbatgottesdienst alle zwei Wochen gefeiert werden konnte. »Einige von denen, die ich ausgebildet habe, leiten heute noch den Gottesdienst«, sagt sie mit einer Spur Stolz in der Stimme.
Das Rabbineramt war der 1951 geborenen Frau nicht in die Wiege gelegt. Zunächst studierte sie Agrarökonomie mit dem Spezialgebiet Geflügelzucht. Später arbeitete sie als agrarwissenschaftliche Journalistin. »Irgendwann wollte ich mehr über meine jüdische Tradition wissen – sie besser kennenlernen und verstehen. Die äußerst großzügige jüdische Tradition und das damit verbundene Forschen und Fragen nach der Wahrheit fasziniert mich bis heute«, sagt Wyler. »Da war der Schritt nicht mehr weit, daraus einen Beruf zu machen.« Sie studierte in Israel, Berlin, London und in New York am Jewish Theological Seminary.
Alina Treiger 2004 kehrte Bea Wyler aus familiären Gründen in die Schweiz zurück. Die Oldenburger Gemeinde blieb ihrer Linie treu und wählte sich 2010 mit Alina Treiger die erste in Deutschland ausgebildete Rabbinerin. Heute zählt die Gemeinde 280 Mitglieder.
Bea Wyler unterrichtet und publiziert heute wieder in der Schweiz. Ihre Liebe zur Wahrheit und zum Lernen ist geblieben. Jeden Abend frage sie sich, ob sie heute schon etwas gelernt habe. »Kann ich das nicht mit ›Ja‹ beantworten, ist es zu früh zum Schlafengehen.« epd/ja