Wenn ich Speisen für den Kiddusch zubereite oder ein Festessen koche, muss immer etwas Neues dabei sein. Es gibt traditionelle Gerichte, die auf den Tisch müssen, wie selbstgebackenes Brot, Bohnenpaste, Gefilte Fisch oder Hering. Aber zusätzlich will ich immer noch etwas anderes machen. Ich kenne viele Rezepte – die meisten habe ich im Kopf. Wenn ich still zu Hause auf dem Sofa sitze, denke ich mir neue Gerichte aus. Ich probiere sie nie zuerst in der eigenen Küche aus, sondern koche immer gleich direkt in der Gemeinde.
Bisher hat alles geklappt. Bei mir sind alle mit dem Essen zufrieden. Ich habe sogar ein Kochbuch geschrieben mit Gerichten aus der jüdischen Küche. Darin stelle ich meine eigenen Rezepte und die meiner Großmutter vor. Die Gemeinde hat schon alle 500 Exemplare verkauft.
strassenbau Gelernte Köchin bin ich nicht. Ich habe in Jekaterinburg Wirtschaftswissenschaften studiert und war 26 Jahre lang im Büro einer großen Straßenbaufirma, bevor ich vor rund 20 Jahren mit meiner Familie nach Dresden kam. Dort bin ich zur jüdischen Gemeinde gegangen und habe meine Dienste angeboten: »Ich kenne mich mit Ökonomie aus, und ich kann gut kochen.« So kam ich in die Gemeindeküche. Heute bin ich dort die Chefin und habe zwei Mitarbeiterinnen.
Das Kochen habe ich von meiner Oma gelernt. Sie war eine große Köchin! Sie kochte russisch, ukrainisch, moldawisch und jüdisch. Das sind sehr unterschiedliche Traditionen: In Russland gibt es viel Fisch, in der Ukraine werden oft Teigtaschen mit verschiedenen Füllungen zubereitet, in Moldawien isst man viel Gemüse wie zum Beispiel gefüllte Paprika und in der jüdischen Küche mehr Fleisch.
Hilfe In ein paar Tagen, an Rosch Haschana, wird für mich und meine Kolleginnen in der Gemeindeküche viel zu tun sein. Bei der Vorbereitung bekommen wir Hilfe von ein paar Gemeindemitgliedern. Die meisten haben schon oft geholfen und wissen, was zu tun ist, da brauche ich nicht mehr viel zu sagen.
Wie lange die Vorbereitung für das Rosch-Haschana-Essen dauert, hängt davon ab, wie viele Leute sich anmelden. Wir erwarten um die 100, da dauert es drei bis vier Stunden. Es wird die typischen Neujahrsspeisen geben: eine runde, süße Challe, Äpfel mit Honig, einen großen Fischkopf, Zimmes, Granatäpfel und Süßigkeiten, vielleicht Kuchen. Ich schreibe einen großen Notizzettel, und am Freitag gehe ich dann mit einer Kollegin einkaufen, zum Großmarkt, zu Lidl oder zu Netto. Wir schauen, wo es günstig ist. Von der Gemeinde aus habe ich im Hotel Eden Park in Bad Kissingen ein Seminar über koscheres Kochen besucht. Dem Küchenchef dort konnte ich sogar noch ein paar Tipps geben.
Koscheres Kochen finde ich sehr wichtig, damit jeder alles ohne Bedenken essen kann. Während der Jiddischen Musik- und Theaterwoche hier in Dresden habe ich selbst einen Kurs im koscheren Kochen gegeben, er war restlos ausgebucht. Meine Tochter ist ebenfalls eine hervorragende Köchin. Ich habe eine sehr gute Familie. Die Kinder, Schwiegerkinder und Enkelkinder kommen häufig zu Besuch, selbst mein Sohn, obwohl er in Hamburg wohnt. Oft habe ich dann etwas zum Naschen bereitstehen, einen schnell gemachten Kuchen mit Äpfeln und Quark zum Beispiel. Nur meine Enkelin will meist nichts essen – damit sie nicht dick wird!
Arbeitszeit Meine Arbeitszeit kann ich mir recht frei einteilen. Wenn ein Essen in der Gemeinde ansteht oder jemand bei uns Catering bestellt, muss ich da sein. Oft bin ich morgens schon um halb sieben in der Gemeinde und bereite das Essen vor oder säubere die Küche. Danach fahre ich eine Weile nach Hause, und wenn abends ein Essen ansteht, bin ich nachmittags wieder in der Küche. Als mein Mann noch lebte, sind wir zusammen zur Gemeinde gefahren. Er hat mir oft geholfen. Wenn wir frei hatten, sind wir gern gereist, nach Tschechien, Polen oder nach Wien, wo wir gute Freunde haben. Oder wir haben Verwandte besucht, überall in Deutschland. Wir waren 52 Jahre lang verheiratet und haben immer alles gemeinsam gemacht.
Der Neuanfang in Deutschland vor 20 Jahren war nicht ganz einfach, weil wir zu Beginn die Sprache nicht konnten, nicht einmal die lateinischen Buchstaben. Die Enkel waren damals noch klein – und nach einer Woche spielten sie mit den deutschen Kindern und lernten die Sprache wie von selbst, während wir danebenstanden und nichts begriffen.
Wir haben zwar einen Sprachkurs besucht, aber der war nicht besonders gut. Wirklich Deutsch gelernt haben wir in der jüdischen Gemeinde. Dort haben wir viel Hilfe bekommen. Heute habe ich auch etliche deutsche Freunde und Bekannte außerhalb der Gemeinde.
Ich bin jetzt 72 Jahre alt. In der Gemeindeküche möchte ich so lange weiterarbeiten, wie es geht. Zu Hause sitzen und nichts tun, das ist schlecht. Meine Großmutter ist 112 Jahre alt geworden. Ich habe eine Schwester in Israel, die ist 98 und eine Cousine in Heidelberg, die ist 94 Jahre alt. Wie lange ich selbst noch in der Gemeinde kochen kann, das weiß Gott allein.
Aufgezeichnet von Karin Vogelsberg