Flüsse haben es mir angetan. Ich lebe in der Nähe des Rheins, als Kind am Tigris und während meines zweiten Studiums an der Fulda. Aufgewachsen bin ich in Bagdad, aber der Irak ist nicht meine Heimat. Nach Bagdad bin ich nie mehr zurückgekehrt. Warum sollte ich auch? Ich bin dankbar, nicht mehr da sein zu müssen. Mit Arabisch bin ich groß geworden, in der Schule lernte ich Französisch und Englisch. Später kamen noch Hebräisch und Deutsch dazu. Arabisch sprach ich die ersten 16 Jahre.
Mir ist bewusst geworden, wie existenziell eine Sprache ist, in der man sich nuancenreich ausdrücken kann. Immer wieder gibt es in meinem Kopf ein sprachliches Wirrwarr. Am meisten schreibe ich auf Englisch, und obwohl es als Fremdsprache auch ein Handicap ist, ermöglicht mir Englisch immer eine sichere Distanz zu meiner Welt – eine Art Niemandsland in meinem Kopf.
Wir wurden verfolgt, mein Vater verlor seine Arbeit, und viele Juden wurden verhaftet
Nach der arabischen Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg 1967 spitzte sich die Situation der Juden im Irak zu. Wir wurden verfolgt, mein Vater verlor seine Arbeit, und viele Juden wurden verhaftet. Bis dahin hatten wir ein angenehmes Leben, denn mein Vater war Angestellter und verfügte über ein gutes Gehalt. Dann mussten wir uns einschränken.
1968, als die Baath-Partei mithilfe eines Militärputsches an die Macht gekommen war, wurden mein Vater und mein Bruder, der damals studierte, verhaftet, kamen aber bald wieder frei. Im Januar 1969 wurden neun Juden wegen Spionageverdachts auf dem großen Platz in Bagdad gehängt. Die Menschen sangen und tanzten den ganzen Tag. Dieses Trauma begleitet mich seitdem. Es war der schlimmste Tag meines Lebens.
Bis zum Sechstagekrieg 1967 galt Bagdad als weltoffene Stadt. Ich konnte eine jüdische Schule besuchen, und auch wenn die Stimmung im Land anti-israelisch war und Juden diskriminiert wurden, hatte ich Antisemitismus nicht direkt erlebt. Schon einmal, als der Irak zusammen mit Palästina britisches Mandatsgebiet wurde, gerieten die irakischen Juden in Schwierigkeiten. Als ich 1954 geboren wurde, hatten bereits 122.000 der rund 130.000 irakischen Juden das Land in Richtung Israel verlassen. Darunter auch der größte Teil meiner Familie.
Ende der 60er-Jahre erlebten wir Repressalien, Gewalt und hatten Angst. Es wurde für uns gefährlich, weshalb wir schließlich über den Iran nach Israel flohen. Da war ich 16 Jahre alt. Jahrzehnte später verarbeitete ich einige meiner Erlebnisse in meinem Roman Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom. Gewidmet habe ich ihn meinen Eltern, die mir Sprachen statt Wurzeln gegeben haben.
In Israel begann für mich das schönste Jahr meines Lebens.
Als wir in Israel ankamen, begann für mich das schönste Jahr meines Lebens. Ich fühlte mich frei – meine Eltern waren mit sich beschäftigt, und ich konnte machen, wonach mir der Sinn stand. Nach dem Sieg im Sechstagekrieg herrschte eine gute Stimmung im Land. Zuerst machte ich das Ulpan-Programm mit, um Hebräisch zu lernen. Meine Familie blieb in Haifa, ich nahm aber in Tel Aviv am Unterricht teil. Über mein neues Leben war ich so dankbar, dass ich unbedingt zur Armee wollte, um etwas davon zurückzugeben.
Und dann brach 1973 der Jom-Kippur-Krieg aus. Wir waren überrascht – obwohl es wohl viele Warnungen gegeben hatte. Zwar war ich noch beim Militär, fühlte mich aber nicht gefährdet. Die Soldatinnen wurden damals nicht an die Front geschickt, im Gegenteil, alle wurden ins Zentrum versetzt.
Nach Ende meines Bachelor-Studiums bin ich für ein Jahr nach Paris gegangen
Nach Ende meines Bachelor-Studiums bin ich für ein Jahr nach Paris gegangen. Ich habe an der Universität französische Literatur studiert und wollte unbedingt die Sprache hören und sprechen. In Frankreich erlebte ich ein Land, in dem es weder Krieg noch Revolutionen gab. Im Gegenteil: Man konnte einfach mit dem Schiff oder Zug von Paris nach London fahren. Das war für mich eine neue Erfahrung. Zurück in Israel, studierte ich klinische Psychologie für einen Magister. Mit Supervisionen für Führungskräfte sowie dem Abhalten von Kursen und Seminaren verdiente ich meinen Lebensunterhalt. In dieser Zeit fing ich an zu malen, was mir immer wichtiger wurde.
Mit 31 Jahren verließ ich Israel wieder – diesmal, um Kunst in Kassel bei Harry Kramer zu studieren. Ein Jahr lang hatte ich mich für die Aufnahmeprüfung vorbereitet, nun wollte ich zwei Jahre in Kassel bleiben. Kramer hielt überhaupt nichts von meinen Bildern, was er mir immer wieder deutlich zu verstehen gab. Schließlich brachte er mir die Konzeptkunst nahe.
Unser Deal lautete, dass ich mit der Malerei aufhöre, solange ich bei ihm im Atelier bin, und stattdessen in diese Konzeptkunst einsteige. Bis dahin hatte ich gegenständlich gemalt, viel mit Ölfarben. Der Geruch von Terpentin löst bei mir bis heute ein gewisses sinnliches Vergnügen aus. Ab und zu vermisse ich das Malen. Später habe ich viel fotografiert.
Ich hatte damals keinerlei Bezug zu Deutschland, mich hatte nur der Studienplatz interessiert. Frankreich und England waren mir viel näher. Aber mit Deutschland verbinde ich natürlich auch die Schoa. In Israel wollte ich mich damit nicht auseinandersetzen, denn ich hatte ja schon mein eigenes Trauma und brauchte kein weiteres. Nachdem ich in Kassel den Film von Claude Lanzmann gesehen hatte, wurde ich erst einmal krank.
Durch Konzeptkunst begann ich, mich mit der Erinnerungskultur auseinanderzusetzen
Und dann begann ich, mich durch Konzeptkunst mit der Erinnerungskultur hierzulande auseinanderzusetzen. Zum Beispiel 1987, anlässlich der 750-Jahr-Feier in Berlin. Da gab es unter anderem eine historische Ausstellung der Deutschen Bahn, die kein Wort über die Deportation der Juden verlor. Deshalb stellte ich eine Seife her, die ich mit dem Text einer Erinnerungstafel an die Deportationen in Grunewald bestempelte, und legte sie in die Toiletten des Ausstellungsgebäudes.
1988 führte ich mit Michael Lawton eine Performance im Polizeipräsidium Köln durch: In Erinnerung an die Pogromnacht 1938 verlasen wir die Namen der aus Köln deportierten Juden – und jeder gelesene Name wurde mit einem Strich auf der Wand festgehalten. Die Performance dauerte eine Nacht lang, und dabei verlor ich vorübergehend meine Stimme. Danach hatte ich eine Kunstblockade und fing an zu schreiben, erst einmal Kurzgeschichten auf Englisch. Allmählich kam ich wieder zu meiner eigenen Geschichte zurück.
Als 1991 der erste Golfkrieg ausbrach, wurde es für mich schwierig.
Als 1991 der erste Golfkrieg ausbrach, wurde es für mich schwierig. In Kassel hängten viele Leute weiße Tücher für den Frieden auf – gleichzeitig wurde Israel mit Scud-Raketen angegriffen. Ich fühlte mich unheimlich isoliert und war sauer. So schrieb ich meine Erinnerungen aus meiner Zeit in Bagdad auf. Zum Schreiben zog es mich erst nach Heidelberg, später nach Köln, wo drei Freunde von mir wohnten. Und die Stadt ist nur drei Stunden von Paris entfernt.
Ich habe eine Zeit lang interkulturelle Trainings für Firmen durchgeführt, die mit israelischen Unternehmen zusammenarbeiten. Die israelische Arbeitskultur unterscheidet sich sehr von der deutschen. So sind die Deutschen gut organisiert und planen im Voraus, Israelis improvisieren, Unternehmen werden weniger autoritär geführt. In diesen Seminaren sorge ich für ein gegenseitiges Verständnis der jeweiligen Arbeitsweise.
Ich bin alles andere als extrovertiert und gern allein
Ich bin alles andere als extrovertiert und gern allein. Geld ist mir nicht wichtig, ich habe eine kleine Wohnung, in der ich glücklich bin. Ich liebe die Stadt, Natur ist zwar auch schön, aber ich spaziere lieber durch Straßen. Am liebsten von einem Viertel zum nächsten, denn ich schaue mir auch gern Häuser und Gebäude an. Und natürlich mag ich es, am Rhein entlangzugehen.
Morgens mache ich Qigong, frühstücke danach und setze mich dann an meinen Schreibtisch im Arbeitszimmer. Derzeit sitze ich an einem Text, an einer Auftragsarbeit – allerdings bin ich sehr langsam, denn ich lebe mit mehreren oder zwischen verschiedenen Sprachen. Meine Eltern sind bereits verstorben. Mein Bruder lebt mit seiner Familie in Israel. Seine drei Töchter sind für mich wichtig, und ich freue mich über unseren guten Kontakt. Sie kommen mich öfters besuchen, und in diesen Tagen reise ich auch zu ihnen nach Israel.
Jüngst habe ich eine Gedenkveranstaltung für die in Israel von der Hamas Ermordeten organisiert. Wir haben die Namen der Opfer, ihr Alter, den Todesort und wie sie starben vorgelesen. Mitglieder der jüdischen Gemeinde waren dabei, aber auch Vertreter von anderen Institutionen. Ich kann nicht verstehen, warum so wenig an die Opfer des 7. Oktober gedacht wird. Für mich war das Totengedenken wichtig, denn für uns Juden ist es Trauerarbeit. Und es war schön, Unterstützung zu bekommen und zu spüren, dass wir nicht allein sind. Viele Besucher sprachen davon, dies sei eine würdige Veranstaltung gewesen.
Ich wünsche mir, dass andere Institutionen und Gemeinden auch so etwas machen. In den nächsten Monaten habe ich viel vor. So möchte ich an weiteren Kunst- und Schreibprojekten arbeiten – worauf ich mich sehr freue.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt