Meine Eltern sind aus der Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Mein Eindruck ist, dass Juden in dem sozialistischen Land nie gelernt haben, das Schöne am Jüdischsein zu sehen. Es gab zwar ein jüdisches Selbstbewusstsein, das war aber das eines vererbten Leids und immer nur mit negativen Konsequenzen behaftet.
Meine Aufgabe war es, dies in meiner Familie zu durchbrechen. So wie es die Aufgabe vieler in meiner Generation, die hier in Deutschland leben, war, sich ihr Judentum wieder von Neuem zu erarbeiten und zu erkämpfen.
erziehung Die jüdische Erziehung durch meine Mutter sel. A. war sehr rudimentär. Ich bin in Berlin aufgewachsen und war in meinem Kindergarten das einzige Kind mit Migrationshintergrund und einem ungewöhnlichen Namen. Das hat mein Selbstverständnis sehr geprägt.
Ich habe gelernt, was es heißt, für sich einzustehen und auch eine Botschafterin für das Judentum zu sein. Auch wenn man das als Kind nicht sein möchte, wird man das automatisch hier in Deutschland. Der Vorteil daran war, dass ich dadurch gelernt habe, wie die Mehrheitsgesellschaft funktioniert.
Es ist die Aufgabe meiner Generation, sich ihr Judentum wieder von Neuem zu erarbeiten.
Als ich dann auf die jüdische Oberschule wechselte, war das eine meiner schönsten Erfahrungen. Das Jüdische Gymnasium hat mir ein Zuhause gegeben. Es hat mir gezeigt, dass ich nicht allein bin – und dass es so viele Menschen gibt, die Traditionen, Geschichte und auch Ängste mit mir teilen. Nun hatte ich ein erstes Fundament an jüdischer Identität, das nicht nur auf Außenwahrnehmung beruhte.
Ein wichtiges Ereignis war für mich die Jewrovision 2011, die unsere Gruppe vom Jugendzentrum Olam gewonnen hat. Das war für mich das erste Mal, dass ich das eigene Jüdischsein mit so vielen anderen Jugendlichen feierte.
ballett Zur Jewrovision bin ich gekommen, weil ich als Kind sehr viel Ballett getanzt habe. Meine Mutter hatte nicht viel Geld, hat aber in einer Ballettschule gearbeitet, wo ich kostenlos Unterricht bekommen habe. Ballett erfordert sehr viel Disziplin und harte Arbeit.
Das hat mich geprägt – ebenso wie der Mut meiner Mutter. Als politisch Verfolgte ist sie in den 80er-Jahren auf spektakuläre Weise nach West-Berlin geflohen. Sie lebte mir vor, für sich selbst einzustehen, sich nicht unterbuttern zu lassen, und dennoch mit Empathie zu handeln und dem eigenen Gefühl zu vertrauen.
Die Familie meiner Mutter war schon immer politisch und musste ihre Heimat wegen Repressionen oft verlassen. Meine Mutter ist in Usbekistan, mein Großvater im Iran und ich nun in Berlin geboren. Mein Urgroßvater ist im Gulag ermordet worden. Die Familie meines Vaters, die aus Lettland stammt, wurde zu einem großen Teil in der Schoa ermordet. All das hat mich politisiert, und ich fing früh an, mich zu engagieren.
erfahrung Neben der Mitarbeit bei verschiedenen interreligiösen Projekten habe ich mich im jüdischen Jugendzentrum eingebracht. Das war für mich eine wichtige und tolle Erfahrung. Bis zum vergangenen Jahr bin ich regelmäßig als Madricha und später als Rosch, als Leiterin, auf die Machanot der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden mitgefahren. Durch mein Engagement in der jüdischen Jugendarbeit habe ich viel gelernt, was ich auch bei meiner heutigen Arbeit anwenden kann.
Nach meinem Studium der Kunstgeschichte und Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin habe ich gemerkt, dass ich gerne einen noch tieferen Einblick in das Judentum gewinnen würde. Also habe ich mich für den Studiengang Jüdische Erziehung in Jerusalem eingeschrieben. Dort habe ich an einer pluralistischen und egalitären Jeschiwa studiert, wo alle Geschlechter unterschiedlicher Denominationen gemeinsam lernen. Hier habe ich tiefgründiges jüdisches Wissen erhalten.
Ich habe gelernt, die jüdischen Werte mit meinen weltlichen und politischen Idealen zu verbinden.
Und ich habe gelernt, die jüdischen Werte mit meinen weltlichen und politischen Idealen zu verbinden. In Jerusalem wurde mir außerdem klar, was an jüdischem Leben möglich ist und dass Europa in dieser Hinsicht noch eine Menge vor sich hat.
jsud Von 2019 bis 2021 war ich im Vorstand der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD). Was ich an der Zeit bei der JSUD wirklich liebte, war der Enthusiasmus, etwas bewegen zu können und auf aktivistische Weise öffentlich auf wichtige Dinge hinzuweisen. Die Erfahrungen, die ich hier sammeln konnte, waren auch für meine nächste Position im Vorstand der World Union of Jewish Students (WUJS) von Nutzen.
Meine Motivation, für die WUJS zu kandidieren, war, all das, was die JSUD in Deutschland schafft, mit den Verbänden anderer Länder zu teilen. Zudem wollte ich erreichen, dass eine jüdische Stimme aus Deutschland mit am globalen Tisch sitzt, was vorher nicht unbedingt der Fall war. Ich wurde die erste JSUD-Repräsentantin bei WUJS.
Hier stand ich vor der Herausforderung, global zu denken, und habe gelernt, dass es nicht immer die Aufgabe einer Institution ist, alle zu vereinen. Der Anspruch kann nicht sein, mit einer Stimme für alle Juden auf der Welt zu sprechen. Für mich geht es eher darum, Diversität zu bündeln und eine Richtung zu geben.
Aktuell kandidiere ich für das Präsidentenamt der European Union of Jewish Students (EUJS). Die EUJS gehört mittlerweile zu einer der wichtigsten Interessenvertretungen in Brüssel und ist der direkte Ansprechpartner der EU für junge jüdische Belange.
fokus Es ist wichtig, den Fokus der Politik auf die Hochschulen zu lenken, denn dort wird unsere zukünftige Gesellschaft ausgebildet. Dort sind die Leute, die sich politisch engagieren und später in den verschiedensten Berufsgruppen vertreten sein werden. Wenn nicht sichergestellt wird, dass dieser Ort frei von Antisemitismus und Rassismus ist, wird es danach viel schwieriger werden, das wieder einzufangen.
Ich war bisher die Programm-Managerin der EUJS und bin für diesen Job nach Brüssel gezogen. Ich kann bei der EUJS sehr politisch arbeiten und mich vielen Themen zuwenden. Von Veranstaltungen über Frauen in marginalisierten Gruppen, Verschwörungsideologien und Hassreden im Netz bis zum »Summer U«, einem der größten Events für junge jüdische Erwachsene, habe ich alles Mögliche organisieren dürfen.
Für meine Kandidatur habe ich das Motto »Chutzpah Time!« gewählt. Chuzpe ist für mich eine charmante Art der Dreistigkeit und Freimütigkeit. Chuzpe ist authentisch, leidenschaftlich, proaktiv und emotional-intelligent. Ich glaube, das ist genau das, wofür die EUJS steht. Ich will eine EUJS-Präsidentin mit lauter Stimme werden und für Zugänglichkeit und Nahbarkeit stehen.
identität Dabei will ich die junge jüdische Identität in ihrer ganzen Vielfalt betrachten und gleichzeitig die einzelnen Teile für voll nehmen und erkunden. Ich will zugleich die Einzigartigkeit des Judentums betonen und universalistischen Aktivismus betreiben. Als Präsidentin möchte ich ein jüdisch-paneuropäisches Aktiven-Netzwerk gegen Menschenrechtsverletzungen ins Leben rufen. Es ist wichtig, universalistisch zu denken, weil viele Probleme nur global und nicht regional gelöst werden können.
Ich bezeichne mich als radikale Idealistin. Darunter verstehe ich, dass ich in meinem Handeln von Idealen geleitet werde.
Vor allem geht es mir aber darum, jüdische Studierende und junge Erwachsene in ihren eigenen Vorhaben zu unterstützen und ihnen noch mehr Möglichkeiten aufzuzeigen. Ich will sie mit dem versorgen, was sie brauchen, um das jüdische Leben um sie herum zum Florieren zu bringen. Jüdisches Leben ist in jedem Land unterschiedlich: in Deutschland anders als beispielsweise in Norwegen oder Polen. Mir geht es darum, die jüdische Identität zu stärken, die schon da ist.
gleichberechtigung Ich bezeichne mich als radikale Idealistin. Darunter verstehe ich, dass ich in meinem Handeln von Idealen geleitet werde. Dazu gehören für mich Gleichberechtigung, Fürsorge und Fairness. Ich hatte als Kind nicht zu allem einen Zugang, weil wir uns das nicht leisten konnten. Ich musste mir die Dinge selbst erarbeiten. Daher kommt meine Priorität, Gleichberechtigung zu schaffen, auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, wo es immer noch Stimmen gibt, die weniger gehört werden.
Für mich hat es höchste Priorität, immer auf meine Ideale hinzuarbeiten. Wenn etwas gegen sie spricht – und das ist meine Chuzpe –, dann mache ich es nicht. Ich glaube, wenn man idealistisch ist, ohne hart zu arbeiten, ist es Träumerei. Wenn man aber idealistisch ist und hart arbeitet, dann ist das für mich Aktivismus.
Aufgezeichnet von Joshua Schultheis