Schoa

Die jüngsten Zeugen

Schätzungen zufolge kamen in Bergen-Belsen rund 800 Kinder ums Leben. Foto: dpa

Lous Steenhuis-Hoepelman hat eine besondere Kindheitserinnerung aufbewahrt. Die gestrickte Puppe »Mies« begleitet die 76-Jährige seit ihrer Zeit im niederländischen Lager Westerbork. Lous Hoepelman war erst drei, als sie 1944 in das Lager kam.

Jemand hatte ihr Versteck bei Pflegeeltern verraten, in dem ihre jüdischen und im Widerstand engagierten Eltern das Mädchen in Sicherheit wähnten. Von Westerbork wurde sie einige Monate später in das niedersächsische Konzentrationslager Bergen-Belsen bei Celle deportiert – ohne Eltern auf sich gestellt wie 49 weitere Kinder.

puppe Eine Nachbildung der Puppe Mies gehört zu den Zeitzeugnissen, mit denen die Gedenkstätte Bergen-Belsen vom 15. April an in einer Sonderausstellung an die Kinder im Lager erinnert. »Ja, es ist eine sehr hässliche Puppe«, erinnert sich Lous Steenhuis-Hoepelman 2013 in einem Interview. »Aber für mich war es das Einzige, was ich hatte. Es muss gut gewesen sein, die hässliche Mies zu haben.«

Mehr als 120 Video-Interviews haben die Historiker der Gedenkstätte seit 1999 mit Menschen geführt, die noch keine 15 Jahre waren, als Bergen-Belsen im April 1945 befreit wurde. Für die Ausstellung Kinder im KZ Bergen-Belsen bilden die Filme den Hintergrund, um ein bisher vernachlässigtes Thema zu beleuchten, sagt Kuratorin Diana Gring. »Es ist unseres Wissens nach die erste umfassende Ausstellung über Kinder in einem deutschen KZ.«

Mit Kapiteln wie Hunger und Sterben, aber auch Familie oder Spiele geben dabei neben 20 Filmstationen auch Fotos, Dokumente und Erinnerungsstücke von Überlebenden einen Einblick in die Kindheit im Lager. Unter rund 120.000 Menschen aus fast allen europäischen Ländern waren in Bergen-Belsen auch etwa 3500 Kinder unter 15 Jahren inhaftiert, die meisten von ihnen Juden.

familien In dem KZ in der Lüneburger Heide gab es ein Austauschlager, in dem die Nazis ganze Familien als Faustpfand festhielten. Anders als in Vernichtungslagern wurden dort deshalb Kinder nicht gleich ermordet. Dennoch kamen Schätzungen zufolge in Bergen-Belsen rund 800 Kinder ums Leben.

Zum Ende des Krieges wurden dorthin Menschen aus anderen Lagern getrieben, darunter auch schwangere Frauen. »Wir gehen davon aus, dass hier etwa 200 Kinder geboren wurden«, sagt Gring. »Überlebt hat kaum eines von ihnen.« Seit vielen Jahren stelle die Geschichte der Kinder in Lager einen Forschungsschwerpunkt der Gedenkstätte dar, sagt ihr stellvertretender Leiter Thomas Rahe.

Die Zeitzeugen-Interviews zeigten dabei auch Facetten auf, die schriftlich selten überliefert wurden, weil sie angesichts der Schrecken im Lager zu banal erschienen. Die Spiele der Kinder gehören dazu, die offenbaren, wie das Grauen Teil ihres Alltags war. »Sie haben Leichen gezählt«, sagt Kuratorin Gring. »Das war schwierig, denn die Körper lagen teilweise verschlungen übereinander.«

waisen Von dem klassischen Rollenspiel »Vater, Mutter, Kind« habe allerdings niemand berichtet, ergänzt Rahe. Ein Junge musste miterleben, wie neben ihm auf einer Pritsche der Vater starb. Für Waisen gab es eine eigene Baracke. In den Familien, die noch zusammen waren, verkehrten sich manches Mal die Rollen, wenn die Erwachsenen durch Hunger und Krankheit geschwächt waren.

»Die älteren Kinder haben dann ihre Eltern versorgt«, erläutert Gring. Sie stahlen in der Küche Kartoffelschalen oder bewachten die schmalen Brotrationen. Die Last, von manchen Aufgaben überfordert zu sein, habe viele ihr Leben lang geprägt. Scham und Schuldgefühle nach dem Tod von Eltern oder Geschwistern begleiteten Überlebende bis heute.

Manchmal seien es nur Bruchstücke, an die sich Menschen erinnerten, die als Kind inhaftiert waren. Doch diese hätten sich umso tiefer in ihre Seele gebrannt. Als verlässliche Zeitzeugen seien Kinder lange Zeit nicht gesehen worden, fügt Gring an. »Wir wollen deutlich machen: Was sie erlebt haben, ist ernst zu nehmen.«

traumatisierung In 14 Biografien zeichne die Ausstellung den weiteren Lebensweg von Kinder-Überlebenden nach, ergänzt Rahe: »Auch wenn es äußerlich nicht sichtbar ist und manche beruflich Karriere machten, hält bei vielen die Traumatisierung bis heute an.«

Zur Eröffnung am 73. Jahrestag der Befreiung am 15. April wollen rund 20 der Kinder-Überlebenden unter anderem aus Kanada, den USA, den Niederlanden, der Schweiz, Israel und Frankreich nach Bergen-Belsen kommen. Wie Lous Steenhuis-Hoepelman haben sie mit ihren Zeugnissen und Erinnerungsstücken dazu beigetragen, ein besonders dunkles Kapitel der NS-Geschichte in den Blick zu rücken.

Die Ausstellung »Kinder im KZ Bergen-Belsen« wird vom 16. April bis zum 30. September im Forum der Gedenkstätte Bergen-Belsen gezeigt. Geöffnet täglich von 10 bis 18 Uhr

www.bergen-belsen.de

Architektur

Wundervolles Mosaik

In seinem neuen Buch porträtiert Alex Jacobowitz 100 Synagogen in Deutschland. Ein Auszug

von Alex Jacobowitz  17.10.2025

Nova Exhibition

Re’im, 6 Uhr 29

Am 7. Oktober 2023 feierten junge Menschen das Leben. Dann überfielen Hamas-Terroristen das Festival im Süden Israels. Eine Ausstellung in Berlin-Tempelhof zeigt den Horror

von Sören Kittel  17.10.2025

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Erinnerung

Gedenken an erste Deportationen aus Berlin am »Gleis 17«

Deborah Hartmann, Direktorin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, warnte mit Blick auf das Erstarken der AfD und wachsenden Antisemitismus vor einer brüchigen Erinnerungskultur

 16.10.2025

Bonn

Hunderte Menschen besuchen Laubhüttenfest

Der Vorsitzende der Synagogen-Gemeinde in Bonn, Jakov Barasch, forderte mehr Solidarität. Seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hätten sich hierzulande immer mehr Jüdinnen und Juden aus Angst vor Übergriffen ins Private zurückgezogen

 13.10.2025

Hamburg

Stark und sichtbar

Der Siegerentwurf für den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge steht fest

von Heike Linde-Lembke  09.10.2025

München

Mut in schwieriger Zeit

Der Schriftsteller und Historiker Rafael Seligmann stellte im Gespräch mit Christian Ude sein neues Buch im Jüdischen Gemeindezentrum vor

von Nora Niemann  09.10.2025

Halle

Erinnerung an Synagogen-Anschlag vor sechs Jahren

Am 9. Oktober 2019 hatte ein Rechtsterrorist versucht, in die Synagoge einzudringen, scheiterte aber an der Tür. Bei seiner anschließenden Flucht tötete er zwei Menschen

 09.10.2025

Daniel Donskoy

»Ich liebe das Feuer«

Der Schauspieler hat mit »Brennen« einen Roman über die Suche nach Freiheit und Freundschaft geschrieben. Ein Interview

von Katrin Richter  09.10.2025