Sie kommen aus Israel, Brasilien und den USA. Aber geboren sind etliche von ihnen in Hamburg. In den ersten Junitagen besuchten ehemalige Hamburgerinnen und Hamburger mit ihren Ehepartnern und weiteren Familienangehörigen auf Einladung des Hamburger Senats die Stadt, aus der sie mit ihren Eltern vor den Nazis fliehen mussten.
Eine von ihnen ist Anja Frida Streit-Daibert, deren Urgroß- und Großeltern Hamburger Kinogeschichte geschrieben haben. Eine Geschichte, die mit der Schoa verschwand, und eine Geschichte, die Frida Streit-Daibert in ihrer Familienchronik Light, Camera, Action … A Story about Overcoming schildert und darin den Fokus auf das Leben ihrer Urgroß- und Großeltern legt. Das Buch soll demnächst auf Deutsch erscheinen.
Anja Frida Streit-Daibert wurde auf ihrer Reise nach Hamburg von ihrem Enkel Thiago begleitet. Die Familie lebt heute in Belo Horizonte, 440 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro. Der Name Streit hat in Hamburg auch heute noch einen guten Klang, steht er doch für eine Kino-Dynastie, für ein Premierenkino, in dem berühmte Filmstars ihre Filme feierten.
Die ersten Kinos in Hamburg gebaut
»Meine Urgroßeltern Jeremias und Frederica Henschel, die sich später James und Frida nannten, haben die ersten Kinos in Hamburg gebaut«, erzählt Streit-Daibert. 1895 hatten sie dieses neue Medium in Paris kennengelernt. Das erste Lichtspielhaus richtete Urgroßvater James für 550.000 Mark ein, das »Palast-Theater«. Es war das erste Theater der Welt, das ausschließlich als Kino fungierte.
1914 übernahmen seine Schwiegersöhne Hugo Streit und Hermann Ulrich-Sass ein Kinogeschäft. Am 29. November 1919 stieg die UFA in das Unternehmen der Henschels und Streits ein. Die Familie fuhr die ersten Autos in Hamburg. Ihre Tanzlokale waren der Garant für das Vergnügen der Hanseaten.
Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten wurde das Leben für die jüdische Familie in Hamburg unerträglich. »Mein Vater Rolf Arno Streit floh 1936 mit nur zehn Mark aus Deutschland nach Brasilien, spielte in Rio de Janeiro Klavier für Essen, zog zurück nach Holland, heiratete – und übersiedelte erneut nach Brasilien, und zwar nach Belo Horizonte, wo ich am 1. Dezember 1946 geboren wurde«, erzählt Anja Frida Streit-Daibert.
Uri Hirsch wurde im Januar 1938 in Hamburg geboren. Bereits im Sommer 1939 emigrierte sein Vater David Hirsch nach London, wenig später konnte die Familie folgen. Eine Erinnerung an Hamburg habe er nicht, sagt Uri Hirsch, er sei damals zu klein gewesen. Doch der Vater kehrte noch einmal zurück nach Hamburg, er war Chasan an der Bornplatz-Synagoge. In der Pogromnacht verhaftete ihn die Gestapo und deportierte ihn ins KZ Sachsenhausen. Uri Hirschs Großvater starb und wurde auf dem Jüdischen Friedhof Ohlsdorf begraben. Die Großmutter mütterlicherseits wurde in Auschwitz ermordet, die Mutter seines Vaters deportierten die Nazis ins KZ Theresienstadt. Sie überlebte.
»Wir sind auch in den nächsten Generationen von der Schoa traumatisiert«
»Wir sind auch in den nächsten Generationen von der Schoa traumatisiert«, erzählt Uri Hirsch sichtlich berührt. 2007 zog er endgültig nach Jerusalem. »Ich wollte immer in Israel leben, es ist unser Land, dort hat Gott uns die Tora gegeben, dort sollen wir sein«, ist er überzeugt. Der 7. Oktober 2023 ist für ihn wie eine zweite Schoa. Während seines Besuchs in Hamburg betete Uri Hirsch als Chasan in der Synagoge Hohe Weide nach der Tradition, die er von seinem Vater gelernt hat.
Peter Jacob Loewenberg war erst sechs Wochen alt, als die Familie floh.
Auch Peter Jacob Loewenberg wurde in Hamburg geboren, am 14. August 1933 im Israelitischen Krankenhaus auf St. Pauli, das Salomon Heine, der Onkel des Dichters Heinrich Heine, einst erbaut hatte. Peter Jacob Loewenbergs Großvater Jakob Loewenberg gründete die Israelitische Höhere Töchterschule in Hamburg. Geboren am 9. März 1856, war er ein großer Pädagoge, Dichter und Schriftsteller.
»Mein Vater Richard Loewenberg war Oberarzt an der Uni-Klinik, die Nazis haben ihn aber 1933 sofort herausgeworfen«, sagt Peter Jacob Loewenberg, der heute Geschichtsprofessor und Psychoanalytiker ist. Der Vater sah die Gefahr des NS-Regimes für Juden und entschloss sich, mit der Familie nach Shanghai auszuwandern. Dort konnte er wieder als Arzt praktizieren.
»Ich habe, wie die meisten hier, keine Erinnerung an Hamburg, denn ich war erst sechs Wochen alt, als wir flohen«, sagt Loewenberg, der heute in Los Angeles lebt und mit seiner Frau Josefine und den Kindern Anna Sophie, Jacob, Ella und Samuel nach Hamburg kam. »Es ist eine sehr schöne Erfahrung, mit der Familie hier zu sein, die Stadt zu erleben und die Orte zu besuchen, in denen meine Großeltern und Eltern gewirkt haben«, freut sich Peter Jacob Loewenberg.