»Ich kann mir keinen geeigneteren Ort für die Rückschau in dieses dunkle Kapitel vorstellen als den Hörsaal eines Universitätsklinikums«, bemerkte Zentralratspräsident Josef Schuster kürzlich vor rund 400 Zuhörern, darunter vielen Studierenden, im Rudolf-Virchow-Zentrum des Universitätsklinikums Würzburg.
Mit dem »dunklen Kapitel« spielte der Würzburger Mediziner auf das Thema der vom »Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine« und dem Ärztlichen Kreisverband Würzburg und Umgebung in Kooperation mit der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg und dem Universitätsklinikum Würzburg organisierten Veranstaltung an: das Schicksal jüdischer Ärzte in der NS-Zeit.
Welche Konsequenzen die nationalsozialistische Verfolgungspolitik für das Leben jüdischer Ärztinnen und Ärzte hatte, die 1933 bei einem Bevölkerungsanteil von 0,77 Prozent 10,9 Prozent der deutschen Mediziner ausmachten, zeigte der Hauptvortrag der Münchner Historikerin Linda Damskis.
approbation 1938 verloren alle jüdischen Medizinerinnen und Mediziner, darunter auch die sechs noch in Würzburg verbliebenen jüdischen Ärzte und die zwei jüdischen Ärztinnen – die Zahlen präsentierten Ingrid Sontag und Elke Wagner vom Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine – die Approbation, die staatliche Genehmigung der Berufsausübung als Arzt.
Die Voraussetzung für den schnellen Zugriff der Behörden hatte die von Eva-Bettina Bröcker und Wolfgang Schmitt-Buxbaum vorgestellte Kennzeichnung der jüdischen Ärzte im »Reichsmedizinalkalender« von 1937 geschaffen.
Den Würzburger Medizinerinnen und Medizinern gelang teils die Emigration in die USA und die Türkei.
Den Würzburger Medizinerinnen und Medizinern gelang teils die Emigration in die USA und die Türkei, teils fielen sie wie die Kinderärztin Klara Oppenheimer, die 1943 in Theresienstadt ermordet wurde, der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zum Opfer. Über das Schicksal Oppenheimers wird demnächst die von Christina Burger und Christoph Zobel vorgestellte »Klara-Oppenheimer-Route« informieren. Damskis nahm auch das Schicksal der jüdischen Emigranten und Remigranten und das Problem der sogenannten Wiedergutmachung nach 1945 in den Blick.
Zu den wenigen jüdischen Ärzten, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Würzburg zurückkehrten, gehörte Max Meyer: Der Spezialist für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde amtierte von 1951 bis 1953 als Rektor der Würzburger Julius-Maximilians-Universität.
Josef Schuster hatte darauf hingewiesen, dass auch hausärztliche Sprechzimmer während des Nationalsozialismus ihrer Unschuld beraubt wurden und die Arztpraxis zum Schauplatz des Rassenwahns wurde. Mit Blick in den Hörsaal fragte der Zentralratspräsident nach den ethischen Standards in der Medizin der Zukunft, der künftigen Bedeutung der ethischen Bildung und der Rolle der Demokratieerziehung im Medizinstudium. »Wir brauchen Antworten, gerade jetzt, da Jüdinnen und Juden sich an den Universitäten zunehmend bedroht fühlen – und bedroht werden«, forderte der Mediziner.
Er berichtete, dass Menschen in Gesundheitsberufen in der NS-Zeit einen großen Anteil daran gehabt hätten, die nationalsozialistische Rassenlehre, den Antisemitismus und die Diskriminierung von Juden zu rechtfertigen: »Von allen Akademikergruppen waren die Ärzte am häufigsten Parteimitglieder (…). Je nach Region waren zwischen 55 und 66 Prozent der Mediziner in Deutschland Mitglied der NSDAP, der SA oder der SS.« Eine ganze Berufsgruppe habe das menschenverachtende System gestützt, organisierten Widerstand habe es unter Ärzten kaum gegeben.
Sensibilität »Nur wer weiß, zu welchen Taten ein Mensch imstande ist, nur wer weiß, wie ethische Standards völlig entgleiten, ja pervertiert werden können, entwickelt eine ausreichende Sensibilität für die Bedeutung medizinischer Ethik«, betonte Schuster. »Das Wissen um diese extreme Verletzung der Menschenwürde damals bewahrt uns vor unbedachten Schritten heute.«
Deshalb solle die Medizingeschichte den Studierenden nicht nur vermitteln, wer wann das Penicillin erfunden habe: »Der medizinische Nachwuchs muss das NS-Euthanasieprogramm kennen. Die Zwillings-Versuche von Josef Mengele. Die Menschenexperimente in den KZs.«
Für einen jüdischen Kollegen an Pessach Dienste zu übernehmen, stärkt den Zusammenhalt.
Die Beschäftigung mit der Vergangenheit könne dabei helfen, die ethische Verantwortung ernst zu nehmen, da die Muster von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit einander glichen, sagte Schuster: »Wer sich damit beschäftigt, wie vor 1933 jüdische Ärzte diskriminiert und verdrängt wurden, wird sich fragen: ›Wie gehe ich heute mit meinen jüdischen Kollegen und Kommilitonen um? Interessieren mich ihre Kultur und ihre Religion überhaupt?‹«
Kleine Gesten wie beispielsweise die Übernahme von Diensten für einen muslimischen Arzt im Ramadan oder das Einspringen für einen jüdischen Kollegen an Pessach würden laut dem Zentralratspräsidenten genügen, damit sich jeder willkommen fühle und der Zusammenhalt im beruflichen Miteinander gestärkt werde.
Erinnerung Abschließend wies der Mediziner darauf hin, dass Jüdinnen und Juden in der kollektiven Erinnerung nicht ausschließlich als Opfer medizinischer Verbrechen erscheinen dürften, da Juden mit wissenschaftlichen Durchbrüchen die Medizingeschichte entscheidend mitgestaltet hätten: »Wir wollen würdigen, wer diese Menschen vor ihrer Vernichtung und Verfolgung waren, und wir wollen ihr geistiges, wissenschaftliches und persönliches Erbe würdigen.«
Ausdrücklich dankte der Zentralratspräsident dem Arbeitskreis Würzburger Stolpersteine für dessen »wirklich unermüdliche Arbeit im Andenken an die Opfer der Schoa«: Kurz vor der Veranstaltung im Uniklinikum waren elf neue Stolpersteine an acht Standorten verlegt worden – die 34. Aktion dieser Art in Würzburg. In der fränkischen Stadt erinnern mehr als 700 Stolpersteine an die NS-Opfer. Dass eine Abendveranstaltung die Verlegung der Stolpersteine begleite, sei ein Alleinstellungsmerkmal der Würzburger Erinnerungskultur: »Die Art, wie das Gedenken und die Verlegung der Stolpersteine in Würzburg erfolgen, ist in der Bundesrepublik einmalig«, lobte Josef Schuster.