Das letzte Wort hat die jüngste Teilnehmerin der Diskussionsrunde. »Allein schon, dass man als Deutsche Angst haben muss, seine eigene Meinung zu der Situation im Nahostkonflikt offen zu äußern, sagt viel über die heutige Situation aus«, meint die 17-jährige Mia. Weil sie den direkten Dialog sucht, engagiert sie sich bei dem Projekt »Meet a Jew« des Zentralrats, bei dem Jüdinnen und Juden unter anderem Schulklassen aufsuchen und über ihre Religion und Kultur berichten.
Beim Fest der Demokratie, das am vergangenen Wochenende im Regierungsviertel gefeiert wurde, war auch der Zentralrat der Juden in Deutschland vertreten. An einem Info-Stand stellte sich der Zentralrat als politische Vertretung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland vor und gab Einblick in einige seiner Projekte.
»Hier ist viel los«, stellt Marion Schubert fest, die ebenfalls bei »Meet a Jew« aktiv ist. Nachfragen hätte es auch zur »Denkfabrik Schalom Aleikum«, dem zweiten dort vorgestellten Projekt des Zentralrats, gegeben.
Zusätzlich fand am Sonntag in einem Aktionszelt ein vom Zentralrat der Juden organisiertes und von Ayala Goldmann, Redakteurin der Jüdischen Allgemeinen, moderiertes Gespräch zum Thema »Junge Jüdinnen und Juden in Deutschland. Junge jüdische Ehrenamtliche berichten über ihre Arbeit und über jüdisches Leben in Deutschland« statt.
»Ich bin eine Jugendliche wie alle anderen auch«, sagt Mia Oliel (17), die nächstes Jahr Abitur macht. Schon als Siebenjährige fuhr sie mit auf Machane, wo sie Freunde fürs Leben fand. Und sie ist schon sechsmal bei der Jewrovision aufgetreten: »Meine Leidenschaft ist Singen und Tanzen.« Vor zwei Jahren zog sie von Köln nach Berlin, wo sie das Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn besucht.
Tim fand über sein Engagement bei »Meet a Jew« Anschluss
Tim Kurockin (19) hingegen wuchs in einer kleinen Gemeinde in Amberg in der Oberpfalz auf. »In der Gemeinde werden alle Feiertage begangen. Leider ist der Altersdurchschnitt sehr hoch, und es gibt kein jüdisches Netzwerk wie in größeren Städten«, sagt er. Erst über sein Engagement bei »Meet a Jew« sei er in die jüdische Bubble hineingekommen.
Derzeit absolviert er ein zehnmonatiges J-Academy-Gap-Praktikum bei der Lauder Foundation. In dieser Zeit wohnt er mit 15 anderen Juden zusammen, möchte sich beruflich weiterentwickeln, Kontakte für die Zukunft anbahnen und viel lernen. Ein Praktikum bei einem Bundestagsabgeordneten hat er bereits abgeschlossen. Die Lauder Foundation gilt zwar als dem orthodoxen Judentum nahestehend, aber er selbst würde sich als »nicht wirklich religiös« beschreiben. »Ich halte die Speisegesetze nicht ein und nutze mein Handy am Schabbat.« Aber die starke Gemeinschaft gefalle ihm.
Am 7. Oktober 2023 befand sich Yardena Baule – wie auch ihre Kommilitonen im brandenburgischen Eberswalde – im Praktikum. Es gab keine nennenswerten Reaktionen auf das Massaker der Hamas in ihrem Uni-Alltag. Ihre Hochschule sei klein und auf Nachhaltigkeit ausgerichtet: »Ich habe dort keinen Antisemitismus erlebt«, sagt die 20-Jährige, die Landschaftsnutzung und Naturschutz studiert. Doch einen Davidstern trage sie sicherheitshalber nicht.
»Die Mär von friedlichen propalästinensischen Protesten muss ein Ende haben«, sagt Noam Petri
Noam Petri, 20-jähriger Medizinstudent aus Berlin und Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), hat in den vergangenen Wochen und Monaten ganz andere Erfahrungen gemacht. An Berliner Hochschulen gab es Proteste, Demonstrationen und Gewalt sowie Besetzungen von Einrichtungen. Petri fordert, dass die »Mär von friedlichen propalästinensischen Protesten« ein Ende haben muss. Diese Demonstranten hätten keine Angst, ihren Hass auf Juden zu zeigen. Nach der Besetzung des Instituts für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität sei das Gebäude »nun nicht mehr benutzbar und wird für längere Zeit geschlossen. Mit roten Dreiecken haben sie Tötungsziele markiert«. Die Besetzer wurden geduldet – erst als der Senat eingriff, wurde das Gebäude geräumt.
Auch manche Dozenten und Professoren würden mittlerweile mit den »propalästinensischen« Demonstranten sympathisieren, was auch ein offener Brief beweise, der von über 1000 Hochschulmitarbeitern unterstützt wird. »Sie möchten das ›Recht auf friedlichen Protest‹ verteidigen. Sie verteidigen also etwas, was nicht stattgefunden hat. Wir verlieren unser Vertrauen in sie.« Würde man so auch bei Aktionen rechtsextremer Studenten reagieren? Petri bezweifelt das.
Mia will sich nach dem Abitur nicht von derartigen Aktionen beeinflussen lassen, auch wenn es sie derzeit schockiert. Sie möchte herausfinden, welche Uni für sie am besten passt, und sich dann dort gezielt bewerben. Dafür bekommt sie Applaus von mehr als 60 Zuhörern.
»Was gibt einem die Kraft, die Situation durchzustehen?«, fragt Ayala Goldmann in die Runde. Molotowcocktails seien gezielt auf die Synagoge Brunnenstraße geworfen worden, ebenso wurde ein Beter angegriffen und seine Hand gebrochen. »Kraft gibt mir die jüdische Gemeinschaft«, so Tim, es sei ja auch nichts Neues, denn »über Jahrtausende haben wir unfassbar viel Negatives erlebt.«
»Gibt es ein Rezept? Ich glaube, wir brauchen es alle«, meint die Moderatorin. Abschalten sei nicht möglich, erklärt Tim. Mia hilft es, sich über schlimme Videos mit Freunden und Familie auszutauschen. Und Yardena berichtet, ihre Familie und ihr Freundeskreis würden ihr helfen. Die nichtjüdischen Freunde stellten ihr keine »negativen Fragen«, und sie wisse, dass sie von ihnen wegen der Situation in Gaza nicht verbal attackiert wird. Für Noam Petri ist es vor allem Humor, der ihn durch diese Zeit bringt. Auch über Tragödien würden Witze gemacht, sagt der Medizinstudent.
Aus dem Publikum meldet sich eine Zuhörerin zu Wort und möchte von den Podiumsteilnehmern wissen, was sie in dieser Situation tun könne? Auf jeden Fall klar widersprechen, Briefe schreiben, sich zivilgesellschaftlich engagieren, empfiehlt Noam Petri.