Am 20. März wird der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, 70 Jahre alt. Im Interview berichtet der Würzburger über seine persönlichen Erfahrungen nach dem 7. Oktober, kritisiert fehlende Gelder im Kampf gegen Rechtsextremismus und verrät, ob er sich eine erneute Amtszeit vorstellen kann.
Herr Schuster, wie hat der 7. Oktober mit dem Terrorangriff der Hamas Ihr Leben verändert? Sie selbst sind in Haifa geboren …
Auf der persönlichen Ebene gibt es ein Unsicherheitsgefühl: Israel war für alle Juden weltweit, also auch für mich, eine Lebensversicherung wegen der gesetzlichen Regelung in Israel, dass jeder Jude das Recht hat, zu jedem Zeitpunkt einzuwandern. Auch im Wissen um die deutsche Geschichte hatte man das Gefühl, einen sicheren Hafen zu haben. Dieses Gefühl wurde durch den Überfall der Hamas erheblich infrage gestellt. Im Amt als Zentralratspräsident habe ich jetzt deutlich mehr Anfragen und Termine. Und das alles ist beeinflusst durch israelbezogenen Antisemitismus.
Haben Sie selbst die von vielen Jüdinnen und Juden auch in Deutschland beklagte Empathielosigkeit nach dem Massaker erlebt?
Im privaten Bereich ist mir das nicht aufgefallen. Im Freundeskreis spricht man über den 7. Oktober - aber sachlich. Man muss nicht in allen Dingen einer Meinung sein, aber wie immer im Persönlichen lässt sich darüber auf einer normalen Diskussionsebene sprechen. Anders ist es im nicht-persönlichen Umgang. Es kommen vermehrt E-Mails und Zuschriften mit antisemitischem Inhalt. Der Krieg in Gaza ist dabei der Aufhänger, aber letztlich merkt man, dass da jemand ein Ventil gefunden hat, um mit allem loszulegen, was er sich schon immer gedacht hat.
Wie blicken Sie auf die jüngsten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus?
Wenn Sie mich vor vier Monaten gefragt hätten, ob ich mir vorstellen kann, dass in Deutschland Hunderttausende dagegen auf die Straße gehen, hätte ich mir das ehrlicherweise nicht vorstellen können. Man hat das Gefühl, mehr Menschen haben verstanden, welche Gefahr für unsere Gesellschaft von rechtsextremistischen Parteien und Gruppierungen ausgeht.
Auf Demonstrationen waren hier und da zugleich auch Plakate von Menschen zu sehen, die einen »Genozid« im Gazastreifen beklagen.
Dass man dort Demonstranten findet, die solche Proteste für ihre Zwecke ausnutzen, wird man nie verhindern können. Es zeigt leider auch, dass die extreme Linke und extreme Rechte über den Antisemitismus verbunden sind. Entscheidend ist, dass die Polizei bewertet, was im Rahmen unserer Rechtsordnung möglich ist, was den Rahmen überschreitet und geahndet werden muss.
Was bleibt von den Demonstrationen? Im September sind in drei Bundesländern Landtagswahlen, und im Juni steht die Europawahl an.
Wir leben in einer Demokratie, und es ist wichtig, sie zu erhalten. Einer der wesentlichen Punkte in einer Demokratie ist das Wahlrecht, und dies sollte aktiv von jedem Wähler genutzt werden. Sich zurückzuziehen nach dem Motto »Wir können ja sowieso nichts ändern«, ist eine völlig falsche Einstellung. Erfreulich ist, dass jüngst der Anteil derjenigen, die die AfD wählen würden, etwas zurückgegangen ist. Es könnten noch mehr sein. Ich hoffe, dass es gelingt, die AfD etwas in ihre Schranken zu weisen. Die Demonstrationen sollten ruhig noch länger andauern.
Sie haben kritisiert, dass Universitäten wegen des grassierenden Antisemitismus für Jüdinnen und Juden nicht zu »No-go-Areas« werden dürften. Sehen Sie aktuell noch in anderen Bereichen solche Zonen?
Es gibt auch im schulischen Bereich Vorfälle, die mich sorgenvoll stimmen. Auf der anderen Seite sind Universitäten in sich abgeschlossene Räume, so dass Antisemitismus hier wie in einem Brennglas deutlich hervortritt. Im Kulturbereich ist es hinsichtlich Antisemitismus generell problematisch. Das haben wir im Zuge der documenta in Kassel vermehrt beobachtet, und auch auf der Berlinale haben wir jüngst Hetze gegen Israel und Juden gesehen. Kulturveranstaltungen in Deutschland dürfen nicht immer wieder Schauplatz für Antisemitismus und Antizionismus werden. Ich erwarte von der Politik endlich mehr als plakative Statements im Nachgang dieser Ereignisse.
Die Politik beschwört den Kampf gegen Antisemitismus. Zugleich müssen viele Initiativen gegen Judenhass, Rechtsextremismus und Rassismus immer wieder neu um Gelder bangen. Die FDP ist gegen das Demokratiefördergesetz, bei dem es auch um eine solche verlässliche Förderung geht.
Das bedauere ich. Das Demokratiefördergesetz bietet die Möglichkeit, gerade solche Gruppen zu unterstützen. Wenn hier entsprechende finanzielle Förderungen zurückgeschraubt werden müssen, ist das für unsere Demokratie kein gutes Zeichen. Auch solche Gesetze zu überarbeiten ist unerlässlich, aber es sollte nicht einfach gestrichen oder blindlings gekürzt werden.
Ist der Zentralrat hierzu mit der Bundesregierung im Gespräch?
Ja, wir sind mit Mitgliedern der Bundesregierung im Gespräch.
Können Sie sich eine vierte Amtszeit als Präsident des Zentralrats der Juden vorstellen?
Die aktuelle Amtsperiode dauert bis Ende November 2026. Eine Prognose möchte ich heute nicht wagen. Das hängt auch davon ab, wie es mir dann gesundheitlich geht. Im Moment geht es mir gut, was in zweieinhalb Jahren sein wird, wissen wir nicht. Die Entscheidung behalte ich mir vor, ohne heute zu sagen: garantiert nicht.
Neben dem Ehrenamt als Zentralratspräsident sind sie weiterhin als Notarzt tätig. Vor vier Jahren hatten Sie sich aus Ihrer Internistenpraxis in Würzburg zurückgezogen.
Das ist ein Notarztdienst in Würzburg und Umgebung. Ich mache das schon immer nachts, zwei bis drei Nächte im Monat. Das war mit der vollen Berufstätigkeit anstrengender. Jetzt ist es ja nicht mehr so, dass ich um 7.30 Uhr mit der ersten Magenspiegelung in der Praxis auf der Matte stehen muss.
Ihr Geburtstag am 20. März liegt kurz vor Purim am 23./24. März, bei dem in fröhlicher Weise an die Rettung der Juden vor der Vernichtung durch die Perser erinnert wird. Welche Bedeutung kann dieses Fest nach dem 7. Oktober haben?
Es gibt so etwas wie das jüdische »dennoch«: Die jüdischen Gemeinden werden Purim auch in der jetzigen Situation als religiöses und freudiges Fest begehen. Das heißt, die Botschaft ist: nicht unterkriegen lassen.