Im idyllischen Bayern sind viele jüdische Spuren verwischt. Nur ab und zugibt es Funde wie den, den Elfriede Kühnel gemacht hat. Die Mitte-80-Jährige aus Heidenheim am Hahnenkamm hatte in einer Wand im Keller eine eingemauerte Flasche entdeckt, in der ein Zettel steckte. »Hier wurde schon mal gesucht und nichts gefunden«, steht auf dem vergilbten Blatt.
Sie fragte sich, ob sich noch mehr Geheimnisse hinter den Mauern ihres Cafés verbergen: von den jüdischen Eigentümern, die enteignet und getötet wurden, von den späteren Bewohnern, die Selbstmord begingen, um der Schuld zu entfliehen, und auch von den Spurensuchern und den Gierigen, die aus dem Leid der Verfolgten bare Münze machten? So scheint zum Beispiel auch eine wertvolle Torarolle vor zwölf Jahren auf unerklärliche Weise verloren gegangen zu sein.
Vielleicht hatte sich der zuständige Beauftragte für jüdische Kulturdenkmäler Hoffnungen auf einen Schatz gemacht, als ihm 2005 der Sohn eines SA-Mannes aus Nürnberg eine Torarolle anvertraute. Die Torarolle, die 1876 von einer Heidenheimer Familie zur Barmizwa des einzigen Sohnes gestiftet worden war, hatte man verloren geglaubt und wiedergefunden.
schwarzmarkt Nun sollte sie an ihren Heimatort überführt und dort ausgestellt werden. Doch auf dem Weg dorthin verschwand sie. Angeblich sollte sie auf einem Friedhof für Judaica in London bestattet werden, angekommen ist sie dort jedoch nie. Ist sie vielleicht in den Schwarzmarkt gelangt? Entsprechende Gerüchte kursieren im Ort. Bei einem Marktwert von 30.000 bis 40.000 Euro eine nicht unwahrscheinliche Theorie.
Gerhard Kühnel, Sohn der Kaffeehausbesitzerin, Architekt und Archäologe, geht solchen Spuren nach und kämpft auf diese Weise gegen das Vergessen an. Mit einigen Mitstreitern gründete er 2013 einen Verein zur Wahrung jüdischen Erbes und plant für die nahe Zukunft ein »Lebendiges Museum« gegen Antisemitismus in diesem fränkischen Dorf, das die Geschichte während des Nationalsozialismus noch nicht aufgearbeitet hat. Hier sollte die verlorengegangene Torarolle ausgestellt werden. nach dem jüdischen Gelehrten des Ortes benannt. Die Wolf-Heidenheim-Gasse setzt einem Mann ein Denkmal, dessen Name und Werk Ortsansässigen kaum noch ein Begriff ist.
erinnerungen Gedenkhinweise sind in Heidenheim ohnehin rar. An die Pogromnacht im Ort und die Brandschatzung der Synagoge aus dem 19. Jahrhundert erinnert nur eine Stele am Rande eines Parkplatzes, der zu einer Bankfiliale gehört, die auf dem Gelände der einstigen Synagoge steht. »Den Lebenden zur Mahnung« heißt es darauf, und man kann nur ahnen, was damals vorgefallen ist.
Sie erinnere sich, sagt Elfriede Kühnel, dass ihr Vater, ein Feuerwehrmann, aufbrach, um zu retten, was noch zu retten war. »Das Löschen haben sie ihm verboten«, sagt sie. Später sei er nie wieder hinausgegangen, um den Heidenheimern zu helfen, wenn sie selbst in Gefahr waren. Das sei seine Form des Widerstands gewesen.
Das Löschen haben
sie ihrem Vater verboten,
sagt Elfriede Kühnel.
Auch Gerhard Kühnel sieht sich diesem widerständischen Geist verpflichtet. Heidenheims jüdische Geschichte müsse gesehen und wiederentdeckt werden, sagt er. Wer erinnere sich beispielsweise heute noch an Max Nassauer, denjüdischen Arzt, der feinironische Erzählungen und amüsante Bildgeschichten über die Mentalität der Heidenheimer schrieb?
Verfall Nur 17 Kilometer von Heidenheim am Hahnenkamm entfernt liegt Hainsfarth. Es ist ein unscheinbarer Ort des Verfalls und sichtbarer Vergänglichkeit. An frühere Gastlichkeit erinnern nur noch schmutzbedeckte Schilder mit den Inschriften »Zur Sonne« oder »Zur Rose« über den Portalen ehemaliger Wirtshäuser.
Diesen morbiden Eindrücken widerspricht die Hainsfarther Synagoge, das exakte Ebenbild des sieben Jahre früher errichteten Gotteshauses von 1853 in Heidenheim. Ein heller, lichter Vorhof, zur Linken das frisch restaurierte Schulgebäude, zentral den Platz einfassend die Synagoge. Sigi Atzmon, die Erste Vorsitzende des Freundeskreises der Synagoge Hainsfarth, kennt jeden Stein, jedes Ornament dieses Gebäudes, das sorgfältig restauriert und unter ihrer Ägide wiedererschaffen wurde.
Auch hier hatten damals die Dörfler getobt. Gescheitert ist die Vernichtung aber an Eitelkeit und Pragmatismus. Als 1938 aus einem Nachbarort Brandkommandos der SA anrückten, verweigerten die Hainsfarther ihnen den Zutritt. Man brauche die Synagoge! Schon lange habe man sie als Turnhalle ins Auge gefasst. In der Tat wurde das Haus zeitweilig als Lager- und Sporthalle genutzt.
missbrauch Die Spuren des Missbrauchs sind heute vollkommen verschwunden. Von der Frauenempore aus sind die farbenprächtigen Schablonenmalereien und die maurischen Fensterleibungen zu betrachten, Mauve und Ocker, Violett und Orange, mit Schmuckbordüren und Holzschnitzereien gerahmt. Baumeister Georg Friedrich Christian Bürklein orientierte sich nicht nur am zeitgemäßen Orientalismus, sondern auch an der Baukunst Friedrich von Gärtners.
Atzmon aber gibt sich mit architektonischer Schönheit allein nicht zufrieden. Es geht ihr um jüdisches Leben. »Anfang des 19. Jahrhunderts war jeder zweite Hainsfarther Jude. Nach dem Krieg kein einziger mehr«, sagt sie. Seit Jahren begeistert sie gegen alle bürokratischen Hindernisse Musiker, Künstler und Poeten, dem Ort der Erinnerung Leben einzuhauchen.
Im März gastiert das »Jewish Chamber Orchestra Munich« in der Synagoge. »Wenn man etwas sichtbar macht, sinkt die Hemmschwelle«, sagt Atzmon und blickt auf die Mikwe, die gerade restauriert wird. »Gras drüber, Rasen mähen, Feschtle feiern« – über das Diktum des Bürgermeisters lächelt sie unbeirrt hinweg.
Jewish Chamber Orchestra Munich: 14. März, 19 Uhr, Synagoge Hainsfarth, Jurastraße 10. Karten im Vorverkauf 19 €, an der Abendkasse 22 €