Porträt der Woche

Die DNA verändern

»Mein behinderter Sohn war eine Motivation, mich mit der Genetik zu beschäftigen«: Esther Deppe (46) aus Bielefeld Foto: privat

Porträt der Woche

Die DNA verändern

Esther Deppe aus Bielefeld studiert Chemie und möchte in der Genforschung arbeiten

von Gerhard Haase-Hindenberg  08.03.2025 21:04 Uhr

Während meiner Kindheit wurde mir nach dem Verzehr sehr unterschiedlicher Nahrungsmittel immer schlecht, weshalb man mich bald von Arzt zu Arzt schleppte. Aber keiner konnte sich erklären, was mit mir los war. Am Ende stellte sich heraus, dass ich ganz vieles nicht vertrage: Milch, Schweinefleisch oder bestimmte Meerestiere. Damals habe ich diese Allergien als ein Zeichen dafür gesehen, dass Gott für mich eine koschere Ernährung vorgesehen hat.

Ansonsten hatten sich meine Eltern bis dahin nicht um die jüdischen Speisegesetze gekümmert. Sie waren aus der So­wjetunion gekommen, wo ja bekanntlich jede Form der Religionsausübung verpönt war. Da ist man froh gewesen, wenn man als Jude in Ruhe gelassen wurde und fing nicht an, koscher zu kochen – obwohl meine Großeltern mütterlicherseits aus einer Rabbinerfamilie stammten, die damals noch sehr strikt gelebt hat. Mein Urgroßvater väterlicherseits, den ich selbst nicht mehr kennengelernt habe, war Mazze-Bäcker. Bei meinem Vater aber war nur die weibliche Linie religiös, die andere war agnostisch, ohne jeden Bezug zu irgendeiner Religion.

Mein Vater hatte Physik sowie Mathematik studiert und war sehr leistungsorientiert. Da seine Familie aus der Bukowina stammte, sprach er von Hause aus Deutsch. Nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik war er in gehobener Stellung in einem Betrieb für Softwareentwicklung tätig. Später hat er sich mit einem Übersetzungsbüro selbstständig gemacht. Er hatte jedenfalls wenig Zeit für mich. Meine Mutter ebenso nicht, denn auch sie hat sehr viel gearbeitet. Zu ihr hatte ich ohnehin ein angespanntes Verhältnis.

Eine außerordentlich wichtige Bezugsperson

Meine Eltern sind gute Menschen gewesen, aber leider waren sie eher mit ihrem Beruf als mit uns Kindern beschäftigt. Stattdessen wurde eine Nanny eingestellt, es gab eine Köchin und eine Haushälterin. Eine außerordentlich wichtige Bezugsperson ist in jener Zeit für mich mein Großonkel Manfred Winkler gewesen. Er war schon 1959 als junger Mann nach Israel ausgewandert, wo er die hebräische und jiddische Sprache sowie Literatur studierte.

Danach leitete er das Herzl-Archiv, war aber auch als Schriftsteller und Bildhauer tätig. Er ist einer der Gründer des Lyris-Kreises gewesen, einer Gruppe deutschsprachiger Dichter in Jerusalem. Diesen Großonkel habe ich regelmäßig in Israel besucht und bei seinen Lesungen in Europa getroffen. Er war der einzige Mensch auf dieser Welt, der mich so akzeptiert hat, wie ich war. Mit ihm bin ich groß geworden, und wir mochten uns sehr.

Zur Welt gekommen bin ich in Unna, aber schon kurz darauf zogen meine Eltern mit mir und meinem vier Jahre älteren Bruder nach Köln. Im Jahr vor meiner Einschulung sind wir abermals umgezogen, diesmal nach Dortmund, wo meine Eltern bis heute wohnen. Dort war ich in der Gemeinde und hatte an der Schule auch jüdischen Religionsunterricht. Mein Vater war zwar bekennender Atheist, hat aber trotzdem bestimmte jüdische Traditionen gepflegt. Es war ihm wichtig, dass wir Kinder wissen, wo unsere Wurzeln sind.

Unmittelbar nach seiner Geburt hatte ich erfahren, dass mein Sohn ein Loch in der Herzwand hat.

So gab es am Türrahmen eine Mesusa, am Freitagabend wurden Schabbat-Kerzen gezündet, und besonders wichtig war ihm die emotionale Verbindung zu Israel, weswegen wir auch oft dorthin gereist sind. Mein Bruder war in Israel sogar im Internat und hat auch sein Abitur dort gemacht. Ich bin in Dortmund nach der zwölften Klasse wegen Schwierigkeiten mit einer Englischlehrerin vom Gymnasium abgegangen und habe zunächst meine demente Großmutter gepflegt. Später habe ich am Oberstufenkolleg in Bielefeld das Abitur nachgeholt und an der dortigen Universität Chemie studiert.

Durch die Gründung einer Familie mit einem nichtjüdischen Ehemann und inzwischen fünf Kindern, von denen vier aus einer früheren Verbindung stammen, habe ich insgesamt 15 Jahre lang beruflich pausiert. Hinzu kam, dass ich einen behinderten Sohn habe. Unmittelbar nach seiner Geburt erfuhr ich, dass der Junge ein kleines Loch in der Herzwand hat, mit einem Durchmesser von zwei Millimetern. Das war für mich natürlich ein Schock. Der Kardiologe versuchte mich zu beruhigen: Er sagte, dies hätten viele Neugeborene, ansonsten aber sei der Junge gesund.

Keine Lautierung, keine Motorik

Doch ich meinte, ein Herzfehler habe immer einen Ursprung. Für mich bedeutete dies ferner, dass ich meinen Sohn in der Folgezeit wegen dieses Herzfehlers vor allen möglichen Infekten schützen musste. Es war schwierig, ihn ein ganzes Jahr zu isolieren, da er Gefahr lief, bei einer Erkältung oder einer anderen Erkrankung womöglich zu sterben. Dann stellte ich fest, dass sich seine frühkindliche Entwicklung verlangsamte und schließlich stagnierte. Keine Lautierung, keine Motorik. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt ja bereits zwei Töchter und dadurch den unmittelbaren Vergleich. Die Kinderärzte aber wollten mich beruhigen.

Bei Jungen sei es normal, hieß es, wenn sie im Gegensatz zu Mädchen retardieren würden. Dann wurden ihm im Rachenbereich Polypen entfernt und Röhrchen zur Innenohrbelüftung in die Ohren gesteckt, damit er besser hören könne. Seine Entwicklung aber ging weiterhin nicht voran. Bald bekam er eine Brille. Eines Tages saß ich in einer Vorlesung an der Uni, in der es um die analytischen Methoden der Genetik ging. Da kam mir der Gedanke, dass mein Sohn ein genetisches Problem haben könnte. Schließlich hatte ich auch einen behinderten kleinen Bruder.

Also habe ich mich in die Literatur vertieft, bis ich die Krankheit fand, unter der mein Sohn leiden mochte. Dann ging ich zum Arzt und bat ihn, das inzwischen zweijährige Kind auf ein »fragiles X-Syndrom«, so der Name, zu testen. Das Ergebnis war ein Volltreffer. Für mich war das allerdings wie ein Schlag auf den Kopf. Zwei Tage habe ich durchgeheult, doch am dritten Tag habe ich begonnen zu kämpfen. Ich habe den Behindertenausweis beantragt, nach Fördermaßnahmen gesucht, und dann habe ich das volle Programm aufgefahren: Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie.

Abschlüsse an der Bielefelder Uni

Ich besorgte einen integrativen Kindergartenplatz, und danach kam er auf eine Förderschule für Menschen mit geistiger Behinderung, die er noch bis zu diesem Sommer besuchen wird. Im Laufe der Jahre hat sich der Junge, der im März 19 Jahre alt wird, für seine Umstände wunderbar entwickelt.

Im Moment hole ich an der Bielefelder Uni einige Abschlüsse nach, die sich inzwischen durch die Umstellung vom Diplomstudiengang zum Masterabschluss ergeben haben. Außerdem arbeite ich noch im Büro des kleinen Handwerksbetriebs für Trockenbau, den mein Mann schon seit den 80er-Jahren betreibt. Nach meinem Studienabschluss würde ich gern im Forschungsbereich der Uni arbeiten, und zwar speziell in der Krebs- und der Genforschung. Vorzugsweise möchte ich mich mit der Frage beschäftigen, ob es möglich ist, genetisches Material von bereits behinderten Menschen so weit zu verändern, dass man sie heilen kann – also ein Gebiet, das man umgangssprachlich eher als Genmanipulation bezeichnen würde.

Aber ich will diesen Menschen ja nicht schaden, sondern im Rahmen des Möglichen ihre Behinderung nehmen und ihnen so ein ganz normales Leben ermöglichen. Ein genetischer Defekt ist ja zumeist in irgendeiner Disposition der Genetik begründet, und wenn man den durch entsprechende Maßnahmen korrigieren könnte, so würde mich das Ergebnis interessieren.

Mein behinderter Sohn war für mich sicherlich eine zusätzliche Motivation, mich damit zu beschäftigen, aber das grundsätzliche Interesse an der Genetik war bei mir auch schon vorher da. Das lag an den Büchern in der Bibliothek meiner Mutter, die Biochemie und Genetik studiert hatte. Insofern bin ich schon sehr früh mit diesem Thema in Berührung gekommen, und da die DNA ein noch wenig Erforschtes und zugleich hochkomplexes System ist, hat mich das eben schon sehr früh interessiert. In der Krebsforschung ist es dasselbe, da es Zellen gibt, die durch Mutation aus bislang unbekannten Gründen einen Menschen krankmachen. Da stellt sich dann eben die Frage: Warum mutieren sie, und wie kann man eine Mutation verhindern? In diesen beiden Bereichen sehe ich meine wissenschaftliche Zukunft.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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