Wenn es etwas zu fotografieren gab, dann war Helga Simon zur Stelle. »Und zwar immer in der ersten Reihe«, sagt Rabbiner Andreas Nachama, der am vergangenen Dienstag bei ihrer Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Charlottenburg amtierte, zu der aufgrund der Pandemiesituation nur wenige Freunde kommen konnten.
Lebenstraum In den vergangenen Jahren ist es ruhig um die Gemeindefotografin geworden. Nun ist sie wenige Wochen vor ihrem 93. Geburtstag gestorben. Einer ihrer Lebensträume ging allerdings nicht in Erfüllung: Ihr ungewöhnliches, spannendes Leben wurde nicht verfilmt. Mehrere Interessenten hatten zwar angeklopft, aber es wurde nicht verwirklicht. Immerhin gibt es den Dokumentarfilm Die kleine Fotografin auf YouTube.
Helga Simon gab nie auf, bevor sie am Ziel war. Beharrlichkeit, Mut, Kreativität und ihr ausgeprägter Wille halfen ihr dabei. Ihr größtes Glück war es, dass sie als junge Frau dem späteren Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski begegnete. Er habe die wichtigste Rolle in ihrem Leben gespielt und sei wie ein Vater für sie gewesen, betonte sie stets. Mit seiner Witwe Ruth war sie noch lange nach Galinskis Tod befreundet.
Heinz Galinski habe die wichtigste Rolle in ihrem Leben gespielt und sei wie ein Vater für sie gewesen, betonte sie stets.
Helgas Vater wurde 1943 nach Auschwitz deportiert. Ihre Mutter Else, eine damals berühmte Schneiderin aus einer protestantischen Familie, besaß zwei Modegeschäfte. Als die Gestapo kam, um die Tochter abzuholen, versteckte sich die 14-Jährige; Mutter und Tochter flohen nach Ostpreußen, wo Verwandte sie verbargen. Ihre Mutter verlor Helga Simon kurz vor Kriegsende. Helga schlug sich allein durch und kam 1947 wieder in Berlin an.
Heinz Galinski sorgte dafür, dass sie die Mittlere Reife nachholen durfte, anschließend lernte sie Modedesign im Lette-Verein und ließ sich dann im Jüdischen Krankenhaus zur Pflegerin ausbilden. Dort waren damals auch die Büros der Gemeinde untergebracht.
HAUSFOTOGRAFIN Sie lernte einen Fotografen kennen, dem sie bei seiner Arbeit die Lampen hielt. Als er einen Termin versäumte, schlug ihre große Stunde. Die damals junge Frau griff zum Fotoapparat und freute sich, denn alle Bilder waren »Volltreffer«, wie sie Jahrzehnte später immer noch gern erzählte.
Unbewegliche Gesichter, die starr in die Kamera blickten, gab es bei ihr nicht. Sie kündigte im Jüdischen Krankenhaus und wurde Fotografin. Von da an, 70 Jahre ist das her, sei sie mit der Kamera verheiratet gewesen und wurde zur »Hausfotografin« der Gemeinde, zu ihrer Chronistin, zur Zeitzeugin ihrer Entwicklung während der Jahrzehnte: Bälle, WIZO-Basare, Synagogeneinweihungen, Feste – alles dokumentierte sie.
Nachts hielt sie das andere Berlin fest, indem sie in Nachtklubs am Ku’damm auf den Auslöser drückte, Tänzerinnen im Café Keese porträtierte und mit ihrer Kamera Veranstaltungen im Haus Wien begleitete. Auch für die Berliner Lokalgröße Rolf Eden fotografierte sie: erst in seinem »Eden Salon«, später auch in seiner Disco »Big Eden«. In Rente ging sie erst vor ein paar Jahren: mit über 85 Jahren.
MARKENZEICHEN Ihr Markenzeichen war die Leiter – denn sie selbst maß nur etwa 140 Zentimeter. »Ich erinnere mich noch an die Geburtsstunde der Leiter«, sagt Rabbiner Nachama. Als in dem frisch fertig gebauten Gemeindehaus in der Fasanenstraße die Barmizwa-Feiern stattfanden und Heinz Galinski aus diesem Anlass eine Rede hielt, stieg Helga Simon zum Fotografieren auf einen Stuhl. Da unterbrach Galinski die Rede und forderte sie auf, sofort vom »kostbaren Stuhl« herunterzukommen. Sie zog daraufhin einfach ihre Schuhe aus und stieg wieder darauf. Der Stuhl wurde schließlich durch eine Aluleiter ersetzt.
Bälle, WIZO-Basare, Synagogeneinweihungen, Feste – alles dokumentierte sie.
Tag und Nacht hat sie fotografiert, drei Stunden Schlaf reichten ihr. Sie konnte aber auch 48 Stunden durcharbeiten, hat sie einmal gesagt. »Das habe ich ja als Kind schon bei den Fliegeralarmen gelernt.« Die schwere, schwarze Tasche mit ihren Kameras begleitete sie ihr Leben lang – und ruinierte ihre Schulter.
UMZUG Vor ein paar Jahren kam dann der Umzug aus der 180 Quadratmeter großen Wohnung in der Charlottenburger Bismarckstraße in eine kleinere Wohnung in einer Seniorenresidenz. Ilse-Barbara Seliger, deren Hochzeit Helga Simon fotografiert hatte, besuchte sie regelmäßig mehrmals die Woche. Die Fotografin wechselte die Rolle: Nun stand sie nicht mehr hinter der Kamera, sondern ließ sich gerne von Schwestern und der Jüdischen Allgemeinen fotografieren. Dabei nahm sie immer eine bestimmte Pose ein, bei der sie den Zeigefinger nach oben streckte.
Am 5. Februar ist die kleine große Fotografin friedlich eingeschlafen, berichtet Ilse-Barbara Seliger, die sie kurz zuvor noch besucht hatte. Helga Simons Werke bleiben: Ihre Fotos werden nun im Landesarchiv aufbewahrt.