Gap Year

Die Chefs von morgen

Es ist Dienstagabend. Anstatt die Füße hochzulegen und den Tag ausklingen zu lassen, steht für Natalia Isakov, Vika Sheinena und David Zolotov noch ein Bewerbungstraining auf dem Programm. Sie haben im Seminarraum von Lauder Yeshurun in Berlin-Mitte Platz genommen. Die drei jungen Juden zählen seit September vergangenen Jahres zu den insgesamt zwölf Teilnehmern des »JAcademy«-Programms.

Das neue Bildungskonzept von Lauder Yeshurun richtet sich an jüdische Abiturienten und Studenten zwischen 18 und 25 Jahren: Elf Monate lang absolvieren sie ein breitgefächertes Pensum aus Praktika, Seminaren und mehrwöchigen Aufenthalten in verschiedenen Metropolen, darunter Berlin, London und New York – auch ein Besuch in Israel ist geplant. Am Ende des »jüdischen Gap Years« sollen sich die Absolventen fit fühlen: für den Arbeitsmarkt ebenso wie für ihren persönlichen Lebensweg. Denn die Kurse sind so gestaltet, dass sie neben den Fähigkeiten der Teilnehmer auch deren jüdische Identität stärken sollen.

Das Bewerbungstraining an diesem Abend leitet der Politologe und Rhetoriktrainer Wladislaw Jachtchenko. Im Seminarraum wird Englisch gesprochen, obwohl fast alle Deutsch und die meisten auch Russisch beherrschen. Dass die Uhrzeit bereits fortgeschritten ist, sei ihnen anzumerken, meint der Coach freundlich. »Lauter müde Gesichter«, stellt er fest. Doch mit seiner lockeren Art rüttelt er die Gruppe schnell auf.

LAMPENFIEBER Ein Bewerbungsgespräch habe auch immer etwas mit Schauspiel zu tun, erklärt Wladislaw Jachtchenko bei dieser Gelegenheit. Sich richtig zu präsentieren sei nicht einfach, aber erlernbar, verrät er. So müssen sich die Seminarteilnehmer in den darauffolgenden zwei Stunden in vorgetäuschten Bewerbungssituationen etwa einem Stresstest unterziehen. »Du wackelst mit deinem linken Knie – versuche, es nicht so sehr zu bewegen«, rät Jachtchenko einem der Teilnehmer. Einer jungen Frau gibt er den Tipp: »Du bist zu ehrlich. Die Selbstkritik steht dir ins Gesicht geschrieben. Du musst immer so tun, als ob alles wunderbar sei.«

Wladislaw Jachtchenko kennt die Situationen, die er beschreibt, genau. Der Kommunikationsprofi gilt auf seinem Gebiet als Spezialist. In München leitet er »Argumentorik«, eine Akademie für Argumentative Rhetorik. Mehrfach hat er bereits an nationalen und internationalen Debattierturnieren teilgenommen und sie als »Bester Redner« abgeschlossen. Rhetoriktipps, Körpersprache, Stimme, Argumentation, Tipps gegen Lampenfieber – es sind anspruchsvolle Tools in Workshops wie diesem, die Lauder Yeshurun den Gap-Year-Teilnehmern mit auf den Weg geben will.

kurse Spezialisten ins Boot zu holen, ist Ita Afanasev wichtig. Sie leitet das Programm und bringt sich auch selbst aktiv ein: Die Rebbezin liest und bespricht mit den Teilnehmern Talmud und Tora. So sieht sich das Lernprogramm zwar dem orthodoxen Judentum verpflichtet, das heißt jedoch nicht, dass der Alltag der Seminarteilnehmer während dieser Zeit streng religiös gelebt werden müsse, sagt Ita Afanasev. Einen Rock anzuziehen, sei zum Beispiel keine Pflicht. Vielmehr möchte sie mit den jungen Frauen und Männern über allgemeine Themen ins Gespräch kommen. Wie können Kinder jüdisch erzogen werden? Wie sieht eine koschere Küche aus? All das sind Fragen, die neben den Coachings ebenfalls bei JAcademy im Zentrum stehen. Dazu gehört auch ein Hebräischkurs.

Natalia Isakov, 24, ist mit dem Konzept sehr zufrieden. Sie ist in einem nichtreligiösen Haushalt aufgewachsen und interessiert sich heute mehr fürs Judentum als ihre Elterngeneration. Beim JAcademy-Programm fühlt sie sich mit ihren Fragen zur Religion gut aufgehoben. Religiöse Bildung auf der einen und berufliche Professionalität auf der anderen Seite seien die zwei ausschlaggebenden Faktoren für ihr Interesse am Lauder-Yeshurun-Programm gewesen. »Ich habe eine neue Herausforderung für mich gesucht«, erklärt die Logopädin aus Leipzig.

Vor allem die Tatsache, dass das Programm auch berufliche Orientierungspraktika enthält, habe sie sofort begeistert. Ihr erstes Praktikum absolvierte sie im Therapiezentrum »Balagan« in Berlin-Charlottenburg. »Man hat mir dort sogar schon eine Stelle angeboten«, sagt sie. Doch wo es nach den elf Monaten hingeht, könne sie noch nicht einschätzen. Berlin sei eine gute Option, »dann wäre ich noch nah genug an der Familie«, sagt sie.

suche David Zolotov ist ebenfalls noch auf der Suche. Der 19-Jährige hat eine Ausbildung zum Elektroniker absolviert und 2016 sein Abitur abgelegt. Sein jüdisches Gap Year im Rahmen der JAcadamy hat er mit einem Praktikum bei der Berliner Tageszeitung B.Z. begonnen. »Die Boulevard-Themen haben mir nicht zugesagt«, fasst David Zolotov seine ersten Eindrücke zusammen, »aber es ist schon interessant zu erfahren, wie Nachrichten entstehen und wie man schreiben muss.« Beim Praktikum in Israel werde er eine Film- und Videoproduktionsfirma kennenlernen. Am meisten habe ihm bislang der Stressmanagement-Kurs mit dem Psychologen, Coach und Stress-Experten Louis Lewitan gefallen.

Vika Sheinena hat während der ersten Station in Berlin für sich herausgefunden, welches Berufsfeld es schon einmal nicht werden soll: Jura. Das Praktikum in einer großen Insolvenzkanzlei sei zwar interessant gewesen, aber für ihren Geschmack auch »sehr trocken«. »Es gibt dort Unmengen von Akten und sogar Mitarbeiter, deren einzige Tätigkeit es ist, sie zu heften und zu ordnen«, berichtet die 20-Jährige erstaunt.

Vika kommt aus einer traditionell jüdischen Familie, »in der die Feiertage eingehalten werden«. Allerdings will sie künftig religiöser leben. »Es lebt sich leichter mit Religion«, ist sie überzeugt. »Wir Menschen brauchen auf alles eine Antwort. Wenn man keine hat, verzweifelt man.«

ablauf Das Bewerbungstraining mit Wladislaw Jachtchenko geht in die letzte Runde. Die Teilnehmer dürfen die Übung nun spielerischer angehen und sollen sich Berufe aussuchen, für die sie sich sonst nicht interessieren. David Zolotov stellt sich als Fastfood-Verkäufer vor, Vika Sheinena als eine Art »Trennungsagentin« nach dem Vorbild der Kinokomödie Schlussmacher.

Programmleiterin Ita Afanasev unterteilt den Ablauf in drei Phasen: Zu Beginn der Weiterbildung gehe es um die Herausbildung der Teilnehmer-Persönlichkeiten – »Ich und Ich«. Dann rücke das Agieren in kleinen Kreisen – »Ich und Du« – in den Mittelpunkt. Im letzten Abschnitt werde an der Führungsqualität gearbeitet: »Ich und die Gruppe«. Denn schließlich ziele das Programm darauf ab, junge jüdische Führungskräfte auszubilden.

Ein Angebot, das sich offenbar einer großen Nachfrage erfreut. Zur ersten Runde seien rund 100 Bewerbungen eingegangen, berichtet Ita Afanasev. Für das nächste Gap Year, das im September 2017 beginnt, können sich Interessierte derzeit online bewerben.

www.jacademy.info
www.facebook.com/jacademy

Interview

»Wir reden mehr als früher«

Rabbiner Yechiel Brukner lebt in Köln, seine Frau Sarah ist im Herbst nach Israel gezogen. Ein Gespräch über ihre Fernbeziehung

von Christine Schmitt  13.03.2025

Bundeswehr

»Jede Soldatin oder jeder Soldat kann zu mir kommen«

Nils Ederberg wurde als Militärrabbiner für Norddeutschland in sein Amt eingeführt

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Hamburg

Hauptsache kontrovers?

Mit der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille wurde die »Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 2025 – 5785/5786« eröffnet. Die Preisträger sind in der jüdischen Gemeinschaft umstritten

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Purim

Schrank auf, Kostüm an

Und was tragen Sie zum fröhlichsten Fest im jüdischen Kalender? Wir haben uns in der Community umgehört, was in diesem Jahr im Trend liegt: gekauft, selbst gemacht oder beides?

von Katrin Richter  13.03.2025

Feiertag

»Das Festessen hilft gegen den Kater«

Eine jüdische Ärztin über Alkoholkonsum an Purim und die Frage, wann zu viel wirklich zu viel ist

von Mascha Malburg  13.03.2025

Berlin

Persien als Projekt

Eigens zu Purim hat das Kunstatelier Omanut ein Wandbild für die Synagoge Pestalozzistraße angefertigt

von Christine Schmitt  13.03.2025

Wilmersdorf

Chabad Berlin lädt zu Purim-Feier ein

Freude sei die beste Antwort auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, sagt Rabbiner Yehuda Teichtal

 12.03.2025

Purim

An Purim wird »We will dance again« wahr

Das Fest zeigt, dass der jüdische Lebenswille ungebrochen ist – trotz der Massaker vom 7. Oktober

von Ruben Gerczikow  12.03.2025

In eigener Sache

Zachor!

Warum es uns besonders wichtig ist, mit einer Sonderausgabe an Kfir, Ariel und Shiri Bibas zu erinnern

von Philipp Peyman Engel  11.03.2025 Aktualisiert