Als der auf die Aktivistin Tarana Burke zurückgehende Hashtag #metoo infolge des Skandals um den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein international Aufschwung gewann, wurde klar: Es gibt keine Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens, in denen struktureller Sexismus überwunden ist. Schlimmer noch: Auf ihm basieren ganze Machtsysteme.
Sexismus ist die subtilere Facette der jahrtausendealten Unterdrückung von Frauen. Er fällt weniger auf, er ist salonfähig, die Schuld wird häufig den Betroffenen selbst gegeben, und in Kombination mit anderen Diskriminierungsmechanismen entfaltet er in seiner Unauffälligkeit eine besondere Wucht.
All diese Erkenntnisse sind für die feministischen Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte maßgeblich – es geht nicht nur um formale und juristische Gleichberechtigung, es geht nicht mehr um offene Unterdrückung oder Benachteiligung, sondern darum, dass Sexismus in seiner unterschwelligen Form weiterhin Auswirkungen auf Frauen und queere Personen hat.
Am 7. Oktober wurde Antisemitismus zum Motiv für schwerste sexualisierte und sexuelle Verbrechen.
Es waren häufig Frauen aus marginalisierten Verhältnissen, die sich tiefgehend mit ihren Erfahrungen befassten und Konzepte und Theorien entwickelten, die ihre strukturellen Diskriminierungserfahrungen sichtbar machten. Auch wenn es um die Formulierung jüdisch-feministischer Positionen geht, wird zum Beispiel das Konzept der Intersektionalität von Kimberlé Crenshaw oft herangezogen, um weniger sichtbare Facetten jüdischer Lebensrealitäten einzuordnen.
Und dennoch wurde bereits vor dem 7. Oktober ein Phänomen von jüdischen und antisemitismuskritischen Aktivistinnen beschrieben: dass nicht nur in diesen theoretischen Konzepten Antisemitismus nicht als eigenständiges Phänomen zu existieren scheint, sondern auch als reale Erfahrung nicht zählt.
Jüdinnen werden aus Bündnissen ausgeschlossen.
Was am 7. Oktober geschah, hat jedoch nicht nur eine extremere Facette dieses bereits bekannten Phänomens hervorgebracht, sondern völlig ungeahnte, katastrophale Ausmaße: Am 7. Oktober wurde Antisemitismus zum Motiv für schwerste sexualisierte und sexuelle Verbrechen. Obwohl die Terroristen der Hamas ihren Gewaltexzess selbst dokumentierten und in die Welt streamten, wird diese relativiert, bagatellisiert, verleugnet und die Schuld sogar den Opfern selbst zugeschrieben.
Die israelische Menschenrechtsprofessorin Cochav Elkayam-Levy, die die »Civil Commission on Oct. 7th Crimes by Hamas against Women and Children« gegründet hat, stellt einerseits fest, dass die gezielte Dokumentation der Gewalt eine Form des kontemporären Terrorismus ist, zu dem es keinen vergleichbaren Fall gibt. Am 7. Oktober wurden nicht nur die Opfer selbst zum Ziel des Terrors, sondern alle, die über ihre Handys aus der Ferne zuschauen konnten und wussten, dass sie damit auch gemeint sind. Dafür brauchte es das Ausrufen des »Tages des Zorns« nicht, das wussten Jüdinnen und Juden bereits am »Schwarzen Schabbat«.
Elkayam-Levy stellt auch fest, dass es für einige Formen der Gewalt und Folter, zum Beispiel die gezielte Gewalt an Familien, noch keine hinreichenden Begriffe in der Genozidforschung gibt.
Außerdem beobachtet sie, dass die gleichzeitige Bagatellisierung und Relativierung dieser Gewalt bis in die höchsten Menschenrechtsgremien stattfindet. Eines der prominentesten Beispiele für Institutionen, die aktiv dazu beitrugen, die Erfahrung israelischer und jüdischer Frauen am und nach dem 7. Oktober unsichtbar zu machen, ist UN Women.
UN Women ist nur ein Beispiel für den selektiven Feminismus.
Die Abteilung der United Nations, die für Frauenrechte zuständig ist, postete erst sieben Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas ein Statement auf X und löschte dieses kurze Zeit später.
Am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, an dem UN Women seit 2010 eine große Kampagne ausrichtet, blieb das kurz zuvor stattgefundene Massaker völlig unerwähnt. UN Women ist nur ein Beispiel für den selektiven Feminismus zahlreicher Organisationen und bekannter Feministinnen.
Die Psychologin und Gründerin des Beratungsstellenverbundes OFEK e.V. Marina Chernivsky benennt seit dem 7. Oktober immer wieder folgende Gleichzeitigkeiten: Trauer und Schock als direkte Reaktion auf den »Schwarzen Schabbat« als Ereignis der Gegenwart, aber auch eines, das sich mit den überlieferten Erfahrungen vergangener Generationen verbindet. Hinzukommend wird die kollektive Traumatisierung durch antisemitische Erfahrungen aufgeladen, die nicht erst bei offener Gewalt beginnen, sondern beim Unverständnis über das Erleben Betroffener.
Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur spricht von einer Neuausformung des antisemitischen Stereotyps, der vor allem in progressiven Bewegungen verfängt: Während »der Jude« über viele Jahrhunderte hinweg misogyn aufgeladen als der verweichlichte Mann gezeichnet und abwertend mit »weiblichen« Attributen versehen wurde, hat sich dieses Zerrbild im israelbezogenen Antisemitismus um 180 Grad gedreht: hin zur Hypermaskulinisierung des Juden, das auf den wehrhaften israelischen Soldaten projizierte antisemitische Bild der weißen Übermacht, in dem auch Frauen keine Opfer sein können.
Wird ihnen deshalb die Gewalterfahrung abgesprochen, obwohl die Täter die Beweise gleich mitgeliefert haben? Judith Coffey und Vivien Laumann schreiben in ihrem Buch Gojnormativität – Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen von Abwehrmechanismen und der Verweigerung, Intersektionalitätsdiskurse zum einen antisemitismuskritisch zu betrachten, und diese zum anderen um Antisemitismus als Erfahrungskategorie zu ergänzen.
Verheerend ist dabei, dass gerade extremistische Ideologien wie Rechtsextremismus und Islamismus sich in Bezug auf ihren Frauenhass und Antisemitismus treffen. Sie sind keine vernachlässigbare Randnotiz, sondern ein grundlegender Bestandteil dieser Ideologien. Beides nicht thematisieren zu wollen, bietet einen Türöffner in den Mainstream. Und genau diese Radikalisierung hat in den vergangenen Monaten stattgefunden.
Fast elf Monate nach dem 7. Oktober haben sich die Folgen des brutalen Terrors der Hamas auf drastische Weise in der Lebensrealität jüdischer Frauen in Deutschland und weltweit niedergeschlagen.
Jüdinnen sprechen von Angst auf dem Nachhauseweg, in der U-Bahn und an der Uni.
Während sich die Bilder der leblosen Shani Louk sel. A. und der blutverschmierten Naama Levy in die Köpfe jüdischer Frauen weltweit eingebrannt haben, berichten Jüdinnen vom Ausschluss aus Bündnissen und Unsicherheitsgefühl im Alltag. Sie sprechen von Angst auf dem Nachhauseweg, in der U-Bahn und an der Uni. Im Juni wurde ein zwölfjähriges jüdisches Mädchen in Paris vergewaltigt. Nach Angaben der Täter »aus Rache für Gaza«. Die Botschaft der Hamas ist angekommen: Jüdische Frauen sollen sich nirgends sicher fühlen können.
Der seit 2019 stattfindende Jewish Women* Empowerment Summit liefert keine vollständigen Antworten auf die komplizierte und teils prekäre Lebenssituation jener, die von der Intersektion von Antisemitismus und Misogynie betroffen sind. Aber er eröffnet einen Raum, in dem diese Erfahrungen existieren dürfen.
Und er unterstreicht erneut, was viele Expertinnen und Experten seit Jahren fordern: Erfahrungen, Strukturen, psychologische Mechanismen und ideologische Verbindungen nicht isoliert voneinander zu betrachten, wenn es darum geht, die Auswirkungen von Antisemitismus zu verstehen. In einer Ära nach dem 7. Oktober ist er auch als deutlicher Appell an queer-feministische Räume zu verstehen: #metoo unless youʼre a jew? lassen wir nicht so stehen.
Laura Cazés hat im S. Fischer Verlag den Band »Sicher sind wir nicht geblieben« herausgegeben.
Hanna Veiler ist Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands und »Frau Europas«, einer Auszeichnung der EU-Kommission und der Organisation Europäische Bewegung Deutschland.