Pieter Kohnstam lebt seit den 60er-Jahren mit seiner Frau Susan in den USA. Gemeinsam haben sie zwei Kinder und inzwischen auch drei Enkelkinder. Dass er einmal dieses Leben führen würde, war in den 40er-Jahren noch so gut wie aussichtslos: Denn seine Kindheit bestand aus Flucht und Angst.
Über seine Erfahrungen zu sprechen, gehört für den 84-Jährigen zum Alltag. Er engagiert sich seit vielen Jahren für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Schoa und hat auch ein Buch über seinen Lebensweg geschrieben. Unter dem Titel A Chance to Live: A Family’s Journey to Freedom erschien es 2006 zuerst in englischer Sprache; 2016 veröffentlichte der Ergon Verlag die deutsche Übersetzung Mut zum Leben – Eine Familie auf der Flucht in die Freiheit.
LESUNG Während eines digitalen Zeitzeugengesprächs des Anne-Frank-Zentrums anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktags las Schauspieler Alexander Wertmann einige Passagen daraus vor. Das Geschriebene basiere auf den Erinnerungen seines Vaters, erklärt Pieter Kohnstam. »Aus dessen Sicht ist es geschrieben«, sagt er, »und es beginnt erst einmal mit der guten Zeit.«
»Wir waren eine gutbürgerliche Familie«
Pieter Kohnstam
Die gute Zeit – das war unter anderem die Hochzeit seiner Eltern Ruth und Hans in Nürnberg; das war das Betreiben einer traditionsreichen, 1865 gegründeten Fabrik für Spielwaren in Fürth. Bis zu ihrer erzwungenen Liquidation habe sie zu den führenden deutschen Exporthäusern für Spielwaren gezählt. »Wir waren eine gutbürgerliche Familie«, sagt Pieter Kohnstam.
1933 – nachdem die SA eine Hausdurchsuchung angekündigt hatte – entschlossen sich die Eltern zur Flucht. Ihr Ziel: Amsterdam. Dort kam 1936 Pieter Kohnstam zur Welt. »In unserer Nachbarschaft lebten damals viele Juden«, erzählt er, »auch die Familie Frank. Wir dachten damals, dass sich alles normalisieren wird.«
NARBE Die sieben Jahre ältere Anne Frank habe oft auf ihn aufgepasst und mit ihm gespielt. Einmal seien sie zusammen Roller gefahren. »In einer Kurve sind wir auf dem Kies zur Seite wegrutscht«, sagt der 84-Jährige. »Ich musste am Kinn genäht werden. Die Narbe nenne ich noch heute mein Souvenir.«
Über Anne Franks Tagebuch hatte Pieter Kohnstam während des Zeitzeugengesprächs auch eine Anekdote zu erzählen. »Dass sie das hatte, war eine Idee meiner Mutter«, sagt er. Sie habe Anne Franks Mutter Edith den Tipp gegeben, ihr ein Heft zu kaufen – zum Zeitvertreib.
Die sieben Jahre ältere Anne Frank habe oft auf ihn aufgepasst und mit ihm gespielt.
Mit der guten Zeit war 1941/42 dann endgültig Schluss. Nachdem die deutschen Besatzer begannen, die in den Niederlanden ansässigen Juden in Vernichtungslager zu deportieren, spitzte sich die Lage in Amsterdam zu. Das Misstrauen gegenüber Juden wuchs, die Stimmung wurde immer unerträglicher. Während die Familie Frank entschied, sich im Hinterhaus zu verstecken – ein Angebot, das sie auch den Kohnstams machte –, beschloss die Familie Kohnstam zu fliehen.
TRAUMA »Über ein Jahr lang flohen wir über Belgien, Frankreich und Spanien nach Argentinien«, sagt der 84-Jährige. Sie sprangen auf Züge, bestachen Beamte, überquerten in undichten Booten Flüsse und wurden von Soldaten beschossen. Zwischendurch landete Pieter Kohnstams Mutter sogar im Gefängnis.
Wie er all die traumatischen Erlebnisse verarbeitet habe, will Direktor Patrick Siegele von Pieter Kohnstam wissen. Vermutlich habe sein Glück darin bestanden, dass er stets mit einem Elternteil zusammen war. So habe er sich wahrscheinlich beschützt gefühlt – trotz aller Angst.