Dresden

»Deutschland nicht aus dem Herzen reißen«

Nachfahren der ehemaligen Bewohner des Hauses Bautzner Straße 20 waren Gäste bei der Einweihung der Gedenktafel. Foto: Steffen Giersch

Bautzner Straße 20 – das ist eine besondere Adresse für die Jüdische Gemeinde Dresden. In dem Gebäude, das die Israelitische Religionsgemeinde 1937 erwarb, konstituierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg die jüdische Gemeinde neu. In den ersten Jahren nach dem Krieg waren Gemeindeverwaltung und Betraum dort untergebracht.

Doch die Geschichte des Hauses und seiner jüdischen Bewohner reicht weiter zurück. Daran erinnert eine neue Gedenktafel. Sie wurde Ende August im Beisein der Nachfahren ehemaliger Bewohner eingeweiht. Zwei Jahre arbeitete die Gesellschaft für Kultur, Ingenieurwesen und Wissenschaften (KIW-Gesellschaft) an der Erinnerungstafel. Unterstützt wurde sie dabei von der Jüdischen Gemeinde zu Dresden und den Vereinen Kulturbüro Sachsen, Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Dresden und Bildungsstätte Hatikva.

Gestaltet wurde die Gedenktafel von KIW-Mitglied Konstantin Arkush.

Gestaltet wurde die Gedenktafel von KIW-Mitglied Konstantin Arkush. »Es ist bemerkenswert, dass ein Verein, der vollständig aus Zuwanderern besteht, sich so lange und so intensiv mit dem Leben deutscher Juden beschäftigt, die vor 75 Jahren an diesem Ort gelebt haben«, sagte Ursula Philipp-Drescher, Vorstandsmitglied der Dresdner Gemeinde.

Schuhcremefabrik Das Wohn- und Geschäftshaus an der belebten Bautzner Straße gehörte ab 1920 Louis und Henriette Schrimmer. Das jüdische Ehepaar betrieb im Hinterhaus eine Fabrik für Schuhcreme und chemische Produkte. Ab 1940 wurde das Gebäude vom NS-Regime zum sogenannten Judenhaus bestimmt. Juden wurden aus ihren Wohnungen vertrieben und in den Judenhäusern zusammengepfercht. Rund 40 Judenhäuser gab es ab 1939 in Dresden.

Die meisten Bewohner und Zwangsbewohner der Bautzner Straße 20 überlebten die NS-Zeit nicht. Auch das Ehepaar Schrimmer wurde deportiert und im KZ Theresienstadt ermordet. Einem Neffen gelang jedoch die Flucht in die USA. Heute ist Bill Schrimmer 95 Jahre alt und hält immer noch Vorträge vor Schülern über seine Erinnerungen an die Pogromnacht und die Verfolgung, berichtet seine Enkelin, Michelle Offsey.

Anlässlich der Einweihung der Gedenktafel sagte sie: »Mein Großvater hat mir viel von Dresden erzählt – das Gute, aber auch das Schlechte. Man konnte ihn aus Deutschland vertreiben, aber niemals Deutschland aus seinem Herzen und seinen Gedanken reißen.«

»Judenhaus« Zu den Zwangsbewohnern der Bautzner Straße 20 zählten auch Irmgard Conradi und ihre Mutter Rosa. 1939 wurde Rosa verschleppt, während ihre Tochter in der Schule war. Tagelang wartete die damals Neunjährige vergeblich auf die Rückkehr der Mutter. Erst 2008 fand die Familie heraus, dass Rosa Conradi 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet worden war.

Irmgard Conradi war zwölf Jahre alt als sie  ins KZ Theresienstadt deportiert wurde.

Als Irmgard Conradi zwölf Jahre alt war, wurde sie ins KZ Theresienstadt deportiert. Dort erlebte sie drei Jahre später die Befreiung. 1949 wanderte sie nach Australien aus. Die heute 89-Jährige engagiert sich nach wie vor im Jewish Holocaust Centre von Melbourne und sandte eine Botschaft nach Dresden: »Dass ich überlebt habe, grenzt an ein Wunder. Es ist wichtig, an die Ereignisse von damals zu erinnern, aber bis heute fällt es mir schwer, über meine Mutter zu sprechen.«

Die Zeitzeugen werden immer weniger. Umso wichtiger ist es aus Sicht der jüdischen Gemeinde, Orte der Erinnerung zu schaffen und die Biografien der Verfolgten und Ermordeten dem Vergessen zu entreißen. Ursula Philipp-Drescher betont: »Ich hoffe, dass viele Passanten vor der Gedenktafel innehalten werden und sich mit diesem schlimmen Stück deutscher Geschichte auseinandersetzen.«

Jom Haschoa

Geboren im Versteck

Bei der Gedenkstunde in der Münchner Synagoge »Ohel Jakob« berichtete der Holocaust-Überlebende Roman Haller von Flucht und Verfolgung

von Luis Gruhler  05.05.2025

Berlin/Potsdam

Anderthalb Challot in Apartment 10b

In Berlin und Potsdam beginnt am 6. Mai das Jüdische Filmfestival. Die Auswahl ist in diesem Jahr besonders gut gelungen

von Katrin Richter  05.05.2025

Sehen!

Die gescheiterte Rache

Als Holocaust-Überlebende das Trinkwasser in mehreren deutschen Großstädten vergiften wollten

von Ayala Goldmann  04.05.2025 Aktualisiert

Nachruf

»Hej då, lieber Walter Frankenstein«

Der Berliner Zeitzeuge und Hertha-Fan starb im Alter von 100 Jahren in seiner Wahlheimat Stockholm

von Chris Meyer  04.05.2025

Essay

Das höchste Ziel

Was heißt es eigentlich, ein Mensch zu sein? Was, einer zu bleiben? Überlegungen zu einem Begriff, der das jüdische Denken in besonderer Weise prägt

von Barbara Bišický-Ehrlich  04.05.2025

Zusammenhalt

Kraft der Gemeinschaft

Die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern feierte das Fest der Freiheit im Geiste von Tradition und Herzlichkeit

von Rabbiner Shmuel Aharon Brodman  03.05.2025

Porträt der Woche

Die Zeitzeugin

Assia Gorban überlebte die Schoa und berichtet heute an Schulen von ihrem Schicksal

von Christine Schmitt  03.05.2025

München

Anschlag auf jüdisches Zentrum 1970: Rechtsextremer unter Verdacht

Laut »Der Spiegel« führt die Spur zu einem inzwischen verstorbenen Deutschen aus dem kriminellen Milieu Münchens

 02.05.2025

Auszeichnung

Margot Friedländer erhält Großes Verdienstkreuz

Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer erhält das große Verdienstkreuz der Bundesrepublik. Steinmeier würdigt ihr Lebenswerk als moralische Instanz

 02.05.2025