Vor zwei Wochen war ich krank. Deswegen habe ich viel im Bett gelegen. Ich huste zwar immer noch, habe aber kein Fieber mehr. Normalerweise bin ich morgens gegen sechs Uhr wach. Ich brauche keinen Wecker, ich werde von selbst wach. Der Wecker würde nichts nützen, denn ich lege nachts mein Hörgerät ab, und ohne bin ich taub.
Morgens mache ich fünf bis zehn Minuten die Übungen, die mir der Physiotherapeut gezeigt hat. Wenn ich mit allem fertig bin, gehe ich in den Speisesaal. Ich wohne in der Budge-Stiftung, einem jüdischen Altenheim in Frankfurt. Das Frühstück ist reichlich, ich kann gar nicht alles aufessen. Was übrig bleibt, nehme ich mit in mein Zimmer, das ist dann mein Abendbrot. Weil ich mittags gut esse, brauche ich abends nicht so viel. Ich will nicht dick werden und passe deshalb auf.
Ich bin der einzige Heimbewohner, der im Speisesaal frühstückt. Alle anderen essen morgens in ihren Zimmern. Zum Mittagessen kommen auch andere. Je nachdem, was es gibt, hole ich mir etwas von der koscheren oder vegetarischen Küche. Nach dem Mittagessen gehe ich wieder nach oben in mein Zimmer. Wenn ich keine Termine habe, lege ich mich nachmittags hin und schlafe ein, zwei Stunden.
asthma Ich bin Ende 2008 aus den USA nach Deutschland gekommen – und geblieben. Dort ist mir das Klima nicht bekommen; ich hatte schlimmes Asthma. Die Luft hier ist besser für mich. Eigentlich wollte ich nicht nach Deutschland, aber England oder die Schweiz sind enorm teuer. Da habe ich von der Budge-Stiftung gehört, die sowohl betreutes Wohnen als auch ein Pflegeheim betreibt, und bin gekommen.
Meine Frau ist bei unserem Sohn in New York geblieben. Lotte wollte nicht in Deutschland leben. Wir haben uns seitdem nicht gesehen; sie will nicht fliegen. Wir telefonieren jeden Tag. Um 13 Uhr rufe ich sie immer an, bei ihr ist es dann morgens um sieben. Ich habe meinen eigenen Telefonanschluss, kann Gespräche zu einem günstigeren Tarif führen.
südafrika Meine Frau hat in einem Versteck in Holland überlebt. Ich habe sie in Südafrika kennengelernt. Dorthin bin ich 1947 ausgewandert. Wir haben 55 Jahre in Südafrika gelebt; zwischendurch war ich auch immer wieder mal in Deutschland, zum ersten Mal 1953. Ich hatte einen Großhandel für Modeschmuck. Ich war also geschäftlich hier. In Südafrika wurde in den 90er-Jahren, nach dem Ende der Apartheid, vieles anders. Wir haben uns wegen der Unruhen nicht mehr sicher gefühlt und sind 2002 zu unserem Sohn in die USA gegangen. Er ist dort Herzspezialist.
Ich werde am 30. Januar 90 Jahre alt. Die Feier soll in meiner Geburtsstadt Bad Kreuznach stattfinden. Die dortige jüdische Gemeinde richtet sie aus, auch die Bürgermeisterin will kommen. Wenn ich in der Budge-Stiftung gefeiert hätte, wäre es zu teuer geworden. Von hier lade ich aber niemanden ein. Als ich kürzlich krank im Bett lag – meinen Sie, dass sich da mal jemand hier aus dem Haus nach mir erkundigt hätte? Nein, keiner. Nicht mal ein Anruf!
holland Ich habe den Holocaust überlebt. Mit meinem Bruder bin ich nach Holland geflüchtet. Dort wurden wir verhaftet, ich kam ins Durchgangslager Westerbork und dachte, ich hätte meinen jüngeren Bruder gerettet, aber das stimmte nicht. Dann kam ich nach Theresienstadt, später nach Auschwitz-Birkenau und Sachsenhausen. Nachdem ich den Todesmarsch überlebt hatte, ging ich nach Brüssel; dort kam ich bei einer Familie unter.
Nach der Befreiung, im Winter 1945/46, als ich mich einigermaßen erholt hatte, schrieb ich alles auf, was ich erlebt hatte. Schreiben war meine Therapie. Mehr als 200 Seiten habe ich geschrieben, auf dünnem Papier, mit Schreibmaschine. Danach hatte ich keine Träume mehr. Vergessen kann ich es nie, aber ich will nicht in der Vergangenheit leben. Ich bin ein optimistischer Mensch, sonst hätte ich auch nicht überlebt.
notizen Meine Aufzeichnungen lagen viele Jahre in der Schublade. Erst nach Steven Spielbergs Film Schindlers Liste, als Mitarbeiter von ihm meine Frau und mich als Holocaust-Überlebende in Südafrika interviewten, kam die Idee, die Notizen zu veröffentlichen. Mein Buch heißt Bekannte traf man immer wieder. Es ist auch in englischer Sprache erschienen; die hebräische Übersetzung, herausgegeben von Yad Vashem und dem Leo Baeck Institute Jerusalem, soll noch in diesem Jahr veröffentlicht werden.
Über meine Erlebnisse spreche ich immer wieder auch vor Schülern. Ich werde eingeladen. Vorher müssen sich die Klassen auf meinen Besuch vorbereiten, mein Buch lesen und ihre Fragen zusammenstellen. Darauf bestehe ich. Das nächste Mal werde ich am 17. Dezember an einer Schule in Mainz sprechen. Und am 19. Januar bin ich in Wörstadt, einem Ort bei Alzey.
Wie meine Tage sonst so vergehen? Es gibt immer etwas zu tun. Heute zum Beispiel muss ich einen Brief ans Finanzamt in den USA absenden. Die lassen einen nicht in Ruhe! Ich schreibe auch E-Mails an Freunde und Bekannte. Ich habe viele Bekannte in Südafrika, Israel, Österreich und in der Schweiz. Manchmal fahre ich in die Frankfurter Innenstadt, um Besorgungen zu machen, in der Apotheke zum Beispiel. Die Apotheke, die die Budge-Stiftung beliefert, hat mir mal was berechnet, was sie gar nicht geliefert hat. Seitdem hole ich mir die Sachen lieber selbst. Man muss aufpassen.
Manchmal muss ich zum Arzt, so auch am kommenden Mittwoch. Wenn das Wetter nicht gut ist, nehme ich ein Taxi. Meist bin ich aber mit Bus und Bahn unterwegs. Mit meinem Behindertenausweis brauche ich nichts zu bezahlen. Im Sommer fahre ich auch mal zu Konzerten in den Palmengarten, oder ich mache einen Spaziergang hier in der Gegend. Langweilig ist mir eigentlich nur sonntags, dann ist hier in der Budge-Stiftung nichts los. Es gibt ein Monatsprogramm mit Filmen, Konzerten und anderen Veranstaltungen. Neulich hatten wir ein wunderbares Klavierkonzert. Ich höre gerne Musik.
Im Fernsehen sind die Nachrichten das Einzige, was mich interessiert, Leider kommen keine guten Nachrichten. Filme schaue ich mir nicht an – das ist nicht meine Welt. Was das Fernsehen bringt, ist doch immer nur Sex oder Crime. Wenn es ein schönes Konzert gibt, ja, dann schalte ich ein. Aber das kommt nicht oft vor.
Ich lese viel. In meinem Zimmer liegen so viele Bücher, die ich noch lesen möchte. Jemand hat mir vergangenes Jahr zu meinem Geburtstag den Roman Die Farben des Wassers geschenkt. Ich habe vor einiger Zeit angefangen, ihn zu lesen, bin aber noch nicht weit gekommen.
freunde Ich erinnere mich noch gut an meinen zehnten Geburtstag. Das war der Tag der Machtergreifung durch die Nazis. Ich habe gefeiert – da waren auch »arische« Freunde dabei, Dieter und Eberhard, die sind mit mir auf dem Sofa herumgehopst. Wir waren Kinder, zehn Jahre alt. Und ein paar Wochen später haben sie nicht mehr mit mir gesprochen, mich nicht mehr gegrüßt, waren in der Hitlerjugend und wollten mit Juden nichts zu tun haben.
Heimat – davon will ich nichts hören, damit habe ich meine Probleme. Ich habe als Kind in Deutschland gelebt und bin hier zur Schule gegangen. Doch meine Heimat ist nicht in diesem Land, wo meine ganze Familie umgebracht wurde. Aber in Bad Kreuznach auf dem Friedhof liegt mein Vater begraben. Neben ihm ist noch ein freier Platz, er ist für mich reserviert.