»Mir macht das Schreiben am meisten Spaß.« So lauten Rafael Seligmanns Schlussworte. Wenige Sekunden davor mahnte er indes noch, dass wir »aufpassen müssen« in Deutschland – auf die Demokratie und die Eindämmung des Hasses und der Hetze. Der Historiker, Politologe und Autor sei nicht immer der bequemste Gesprächspartner, aber er schätze ihn, weil er in der Kritik konstruktive Vorschläge mache, meinte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Beide waren am Dienstag vergangener Woche zu Gast beim Jüdisch-Literarischen Rondeel in der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. Seligmann ist der dritte Autor, der in dieser jungen Reihe empfangen wird. Im Repräsentantensaal standen bisher Maxim Leo und Christian Berkel Rede und Antwort. Da der Gastgeber Thomas Sparr vom Suhrkamp-Verlag krankheitsbedingt ausfiel, übernahm Anja Siegemund, Direktorin des Centrum Judaicum, die Leitung.
LANDJUDENTUM Seligmann (72) und Schuster (66) haben einige Gemeinsamkeiten: Der eine ist in Tel Aviv geboren, der andere in Haifa, beide Väter entstammen dem süddeutschen Landjudentum (Ichenhausen und Bad Brückenau) und flohen vor den Nazis nach Palästina. Dort lernten sie ihre ebenfalls emigrierten Frauen kennen und kehrten 1957 und 1956 wieder nach Bayern zurück.
Bei etlichen Veranstaltungen begegneten sich Seligmann und Schuster bereits als Jugendliche.
»Wir kennen uns schon viele Jahre«, sagte Schuster. Bei etlichen Veranstaltungen begegneten sie sich bereits als Jugendliche. Damals lebten etwa 20.000 bis 25.000 Juden in Deutschland, so der Zentralratspräsident.
Nun darf Schuster Fragen zu Seligmanns frisch gedrucktem Buch über seine Familiengeschichte stellen. Nach Lauf, Ludwig, lauf! Eine Jugend zwischen Synagoge und Fußball ist in diesen Tagen der zweite Band, Hannah und Ludwig. Heimatlos in Tel Aviv, erschienen. Im ersten Teil stehen die Kindheit und Jugend des Vaters im Mittelpunkt, der von der Schule abgehen musste, um die Familie zu ernähren. Nachdem der nationalsozialistische Judenhass immer stärker wurde, konnte die Familie dank der Warnung eines Fußballspielers noch rechtzeitig fliehen.
ORANGENPFLÜCKER In Tel Aviv arbeitete sich Ludwig vom Orangenpflücker zum Prokuristen hoch und verliebte sich in Hannah, die ebenfalls aus Berlin geflohen war und ihre eigene Familie verloren hatte. Sie bekamen einen Sohn, Rafael. Als es ihnen in den 50er-Jahren finanziell immer schlechter ging, beschlossen sie, nach Deutschland zurückzukehren.
»Ich konnte Deutsch zwar sprechen, aber nicht schreiben«, erinnert sich Seligmann. Und die Schule sei nicht immer der beste Ort für ihn gewesen. »Das waren ja noch Lehrer, die in der Nazizeit ausgebildet wurden.« Als er bedroht wurde, ging seine Mutter zum Direktor, und, als das nichts half, zum Schulstadtrat. Das Wort »Judensau« hörte er trotzdem weiter auf dem Schulhof.
»Ich habe mich in die Welt der Fantasie verdrückt – und das war eine gute Welt für Schriftsteller.« 1988 suchte er nach jüdischer Gegenwartsliteratur – vergeblich. »Ich wollte wissen, wie es den Juden in Deutschland geht.« Eine Buchhändlerin empfahl ihm daraufhin das Tagebuch der Anne Frank. So schrieb er die jüdische Gegenwartsliteratur selbst. »Warum hast du dich jetzt auf deine Familiengeschichte gestürzt?«, will Schuster wissen.
INITIATIVE Ein bisschen schuld sei seine Frau, denn sie erinnerte ihn immer wieder an die 80 Seiten, die sein Vater in seinen letzten Lebensjahren vor seinem Tod 1974 geschrieben hat. Sie wurden zur Basis. So konnte er der jüdischen Landgemeinde Ichenhausen ein Denkmal setzen.
Bei einer Lesung im Geburtsort seines Vaters erfuhr Seligmann, dass Adolf Hitler immer noch Ehrenbürger von Ichenhausen war – woraufhin der Autor eine Initiative startete, mit dem Ergebnis, dass sie Hitler postum 2019 aberkannt wurde.
Wie es weitergeht, werden seine Leser in ein paar Monaten erfahren. Die ersten 30 Seiten des dritten und letzten Bandes der Familiensaga sind bereits geschrieben. »Das wollte ich hören«, sagt Josef Schuster zufrieden – und lässt sich ein Buch signieren.