Der Schabbattisch im Bocholter Stadtmuseum ist gedeckt. Acht Teller stehen bereit, acht Gläser, acht Bestecke, in der Mitte liegt eine große Challa unter einem weißen Tuch. Vor dem Holocaust hätte die Familie Seif an diesem Tisch Platz finden können – Mutter, Vater und die sechs Kinder. Nach 1945 wären sieben Stühle unbesetzt geblieben. Nur ein Sohn hatte überlebt, Sigmar Seif, denn er stand auf »Schindlers Liste«. Dem ehemaligen Bocholter ist derzeit im Stadtmuseum eine Ausstellung gewidmet.
Erst im September 2012 stieß Josef Niebur darauf, dass Sigmar Seif überlebte, weil Oskar Schindler und seine Frau Emilie ihn auf die Transportliste gesetzt hatten. Niebur ist ehrenamtlicher Bocholter Historiker. Vor einem knappen Jahr veröffentlichte er ein 500 Seiten starkes Werk, in dem er die Geschichte der Juden zwischen 1937 und 1945 in der Grenzstadt zu den Niederlanden nachzeichnete. Auch an Mitglieder der Familie Seif wird darin erinnert, doch über Sigmar brachte Niebur kaum etwas in Erfahrung.
Zufall Im vergangenen Spätsommer fand er schließlich durch Zufall im Internet heraus, dass der Name Sigmar Seif auf »Schindlers Liste« gestanden hatte. In der Stadtbibliothek fand er auf einer Kopie den Eintrag bestätigt. »Da war die Idee geboren, Sigmar Seif zum Tag der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus eine Ausstellung zu widmen«, erklärt Hermann Oechtering, der mit Josef Niebur zusammenarbeitete und die Schau mit ihm kuratiert. Niebur und Oechtering mussten nicht bei Null anfangen, da sie auf Nieburs Recherchen zurückgreifen konnten.
Ein weiterer Zufall spielte den beiden in die Hände: Seit 2003 kommt Benno Simoni, Vorstandsmitglied der Union Progressiver Juden, regelmäßig nach Bocholt. »Als ich meine Familiengeschichte recherchierte, fand ich heraus, dass ein Teil der Familie 1920 hier gelandet war«, erzählt Simoni. Es waren die Seifs. Der Berliner kam in Kontakt mit dem Bocholter VHS-Arbeitskreis Synagogenlandschaften. Doch auch Simoni wusste nicht, dass sein Großcousin Sigmar Seif auf der Liste stand. Von Niebur darüber informiert, stellte er seinerseits Dokumente zusammen, nahm Kontakt mit Seifs Nachfahren in den USA auf und erhielt schließlich auch ein Foto.
Exponate So ist nun beispielsweise die Geburtsurkunde von Sigmar Seif im Stadtmuseum ausgestellt, Erinnerungen von Nachbarn an die Familie, auch ein Dankesschreiben aus dem Jahr 1979 von Seif an den Bürgermeister Bocholts, der ihm zwei Bücher über die Stadt in die USA gesandt hatte. Die Lebenswege von Seifs Eltern – sein Vater Salomon war Kultusbeamter in der israelitischen Gemeinde – und Geschwistern werden ebenfalls skizziert. Sie starben in Ghettos und Vernichtungslagern, wie sechs Millionen weitere europäische Juden.
»Diese riesige Zahl ist schwer zu begreifen«, sagt Georg Ketteler, Leiter des Stadtmuseums. Mit dem Schabbattisch werde »der Schrecken ein wenig erfahrbarer«. An den leeren Stühlen sind Karten angebracht: Mutter Regina, Vater Salomon und ihre Tochter Meta wurden in Riga ermordet; Margot, Irma und Richard in Auschwitz, Rosa in Krasnystaw. Sigmar Seif überlebte mehrere Konzentrationslager, darunter das Vernichtungslager Auschwitz.
Rettung Am 21. Januar 1945 wurde er vom Ehepaar Schindler aus dem Außenlager Golleschau bei Auschwitz gerettet. Er wanderte später von den Niederlanden in die USA aus, wo er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern lebte. Am 21. Dezember 2009 starb Sigmar Seif im Alter von 95 Jahren in Paterson, New Jersey. Dank Oskar und Emilie bekam er die Möglichkeit, wieder Leben an den Schabbattisch seiner Familie zu bringen.
»Der Bocholter Sigmar Seif (1913–2009) stand auf ›Schindlers Liste‹«. Bis zum 26. Februar im Stadtmuseum Bocholt, Osterstraße, Dienstag bis Sonntag 11 bis 13 Uhr und 15 bis 18 Uhr.
Josef Niebur: »Buch der Erinnerung, Juden in Bocholt 1937–1945«, 18 Euro