Familiengeschichte

Der Mann, der mein Vater war

70 Jahre sind vergangen, seit am 9. Februar 1945 amerikanische Flugzeuge Weimar bombardierten. Zum Jahrestag des Luftangriffs hat die Stadt die Opferzahlen konkretisiert. Der Bombenangriff habe insgesamt 1103 Menschenleben gefordert. Neben 462 Einwohnern, Zwangsarbeitern und 50 Kindern starben rund 600 Häftlinge des KZ Buchenwald. Chaskiel Goldberg war einer der wenigen, die davonkamen.

Lodz, Frühjahr 1940. Eliasz Ber ist zwei Jahre alt, seine Schwester Mascha Kitla vier. Sie läuft an der Hand ihrer Mutter Mirjam. Eliasz Ber mag nicht laufen. Sein Vater Chaskiel trägt ihn. Die Familie ist auf der Flucht aus Zdunska Wola, einem kleinen Schtetl unweit von Lodz. Sie laufen direkt bis zum Ghetto im Norden der Stadt. »Papa, lass mich nicht los«, greint der Kleine. Chaskiel hält seinen Sohn fest, wehrt sich, als die SS ihm das Kind wegnehmen will. Er wird zusammengeschlagen.

Als er aus seiner Ohnmacht erwacht, sind sie weg: seine beiden Kinder und Mirjam. Sie sind irgendwo auf diesen vier Quadratkilometern in irgendeiner heruntergekommenen Wohnung ohne elektrisches Licht untergebracht. Strom gibt es kaum im Ghetto.

Das weiß Chaskiel Goldberg, als er erwacht, nicht. Vielleicht wird er das auch später nicht wissen wollen. Mein Vater hat nie darüber gesprochen. Zumindest nicht mit mir. Ich war die Kleine. Aber er hat meiner Mutter erzählt, zumindest etwas. Fast nichts meinem Bruder. Unsere Eltern haben deutlich vernehmbar geschwiegen.

ENTDECKUNG Irgendwann habe ich in einer Schublade des alten Schranks im Wohnzimmer meiner Eltern Fotos gefunden. Die Schublade, so weiß ich heute, hätte ich damals nicht öffnen dürfen. Sie war meine Büchse der Pandora. Ich fand Fotos von toten nackten Menschen. Leichenberge in schwarz-weiß. Ich wusste, woher sie stammten. Ich war alt genug, 15 vielleicht. Ich kannte Friedrich Wolfs Professor Mamlock und Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen. Das ging mir nah, und das sollte wohl auch so sein. Aber ich war nicht gefasst auf diese Bilder von Menschen, nackt und bloß.

Gerippe mit hohlen, leeren, eingefallenen Augen. Selbst im Tod keinerlei Entspannung in den ausgemergelten Gesichtern. Männer und Frauen. Kreuz und quer. Für sie kam die Befreiung zu spät. Einige Minuten hielt ich diesen Anblick aus. Die grausigen Taten der Nazis gab es sonst nur im Geschichtsunterricht, in der Literatur und im Film, aber doch nicht zu Hause. Ich schloss die Schublade wieder. Öffnete sie in den darauffolgenden Tagen und Wochen aber ein ums andere Mal. Und immer wieder war ich allein mit diesem Grauen.

Kinderfoto Irgendwann schaffte ich es dennoch, weitere Bilder anzusehen. Da waren noch mehr Leichen. Noch mehr Unbegreifliches. Und dann, ganz tief unten, so tief, als sollte es niemand mehr finden, entdeckte ich dieses Bild eines kleinen Jungen im Kinderwagen. Irgendwie sieht er lustig aus. Es könnte ein typisches Foto sein, das man herumreicht, um ein bisschen anzugeben: »Sieht er nicht lieb aus? Und sieht er nicht genau aus wie die Eltern? Oder wenigstens wie die Großeltern?«

Solche Gedanken hatte ich damals mit 15 noch nicht. Die kamen später, viel später. Da habe ich selbst Kinder und bin schon Großmutter. Damals fühlte ich mich lediglich angezogen von diesem Bild. Es liegt doch nicht zufällig unter den vielen anderen Aufnahmen aus einem KZ. »Das ist Eliasz Ber«, antwortet meine Mutter sehr knapp auf meine Frage.

Sie sagt es in einem Ton, dass ich besser schweige, jedenfalls im Moment. Sie nimmt mir das Bild aus der Hand und legt es in die Schublade zurück. Sie ist wohl ähnlich hilflos wie ich. Doch ich will wissen: Was ist das für ein Foto? Warum liegt das hier? Woher kommt es? Wieder nur ein kurzer Satz von meiner Mutter: »Das war dein Bruder.« Es wird lange dauern, bis ich zumindest etwas aus dem Ghetto und meiner ursprünglich großen Familie erfahre. Einer Familie, die ich zeitlebens nie kennenlernen werde.

Bruder Mein Bruder. Hätte er die Nazis überlebt, gäbe es mich nicht. Ich werde Jahre benötigen, diesen Gedanken wirklich zuzulassen. Ich lebe, weil der Kleine und seine Schwester ermordet wurden. Ohne Nazis kein Ghetto. Ohne Ghetto kein KZ. Ohne KZ nicht diese Morde. Vielleicht wäre Eliasz Ber heute ein weiser Mann mit wenigen Haaren. Etwas hager und leicht gebeugt. Gütig. Bis in die Augen lächelnd, wenn die Enkel angerannt kommen. Ein Opa, der vorliest, der verständnisvoll kleine Missetaten deckt, denn er erinnert sich, wie er selbst einmal jung war.

Ich wachse ohne Tanten und Onkel auf, auch ohne Großeltern. Bis auf einen Onkel sind sie alle tot. Ermordet. In der Schule erzählen die anderen Kinder von ihren Familienfesten. Ich schweige. Meine Familie ist klein: Mutter, die Katholikin, kommt aus Süddeutschland. Doch dorthin komme ich erst, als die Mauer fällt. Da bin ich bereits Mitte 30. Von dort wächst mir aber auch keine Verwandtschaft zu.

Familie Vater, der Jude, kommt aus Zdunska Wola. Neun Geschwister waren sie. Sein Vater war Handwerker, seine Mutter Hausfrau. Die haben seit Generationen dort gelebt. Sie lebten sehr rückständig, sagt meine 91-jährige Mutter heute. Bis sie in die Nazizeit gebombt wurden. Bis auf einen Bruder, der in den 20er-Jahren nach Deutschland gegangen ist, um nicht in der Armee Dienst tun zu müssen, werden sie alle ermordet. Wahrscheinlich in Auschwitz, das werde ich nie sicher wissen.

Mein Bruder Henryk reist vor einigen Jahren nach Zdunska Wola. Die Behörden geben Auskunft. Aber sie wissen nicht viel. Nur das Haus, in dem der Vater geboren wurde und in dem er später gelebt und gespielt hat, das steht noch.

Chaskiel Goldberg – der Mann, der mein Vater war – wird nicht erfahren, wohin seine Familie, wohin die Frau, die Kinder, die Eltern, die Geschwister verschleppt wurden. Zumindest vorerst nicht. Denn er wird nach Auschwitz-Birkenau gezerrt. Vielleicht war seine Frau, waren seine Kinder im selben Zug, voller Angst, allein. Auch darüber wird er nicht reden. Allerdings sehe ich auf seinem linken Unterarm die Nummer B 9640. Auch Vieh wird so gebrandmarkt. Ich sehe diese Nummer als Wunde. Fasse vorsichtig darüber. Nein, das tut nicht mehr weh, sagt er.

Wirklich fragen konnte ich ihn nie. Dafür war er mir, solange er lebte, nicht nah genug. Als ich vielleicht in der Lage dazu gewesen wäre und erfahren wollte, begriffen hatte, dass er ein zerstörter Mensch war und vielleicht nicht wirklich eine neue Familie hätte gründen sollen, blieb mir nur noch der Jüdische Friedhof in Erfurt. Er starb vor 25 Jahren und hat die Wiedervereinigung nicht mehr erlebt.

Er hat vieles von dem, was ihm als Grauen zwischen 1940 und 1945 begegnet ist, weggeschwiegen. Aus Angst? War es Verdrängung? Doch trotz des Schweigens waren diese Jahre mitten in unserer Familie. Irgendwo im Keller finde ich eines Tages ein Holzschild. In roter Farbe steht dort »Goldberg« geschrieben. Hastig offenbar: Die Farbe zieht Nasen. Die Schrift wirkt wie Blut. Es ist jenes Schild, das über seiner Schlafstatt – einem einfachen Stück Brett – angebracht war. Bis heute mag ich es nicht, wenn ein Mensch nur mit seinem Nachnamen angesprochen wird.

ÜBERLEBEN Mein Vater hat nie erzählt, wie viele Konzentrationslager er überlebt hat. Sicher sind drei: Auschwitz, Buchenwald und Dora. Es ist der 9. Februar 1945. Auschwitz ist befreit. Nicht aber mein Vater. Die SS hat ihn einige Tage zuvor nach Buchenwald verschleppt. Er weiß, auch dort würden sie nicht bleiben. 1200 Häftlinge sollen nach Halberstadt transportiert werden. Die Amerikaner bombardieren Weimar und die umgebenden Straßen, sie wissen nicht, dass da unten Häftlinge sind. 600 Häftlinge sind tot. Die, die überleben, sind schwer verletzt und werden ins Buchenwald-Außenlager Dora gebracht.

Mein Vater wird am rechten Fuß getroffen. Ärztliche Versorgung? Nein. Die Wunde entzündet sich, sie schneiden einfach ein Stück Bein ab. Er brüllt. Und er wird noch oft bei jedem Wetterwechsel vor Schmerz schreien, erzählt meine Mutter. Mit seinem KZ-Ausweis Nummer 2495 kommt er nach Erfurt. Der Krieg ist aus. Sie werden ihm in dieser Stadt das Bein noch einmal operieren. So werden die Schmerzen erträglich.

Bautzen Mein Vater hat überlebt. Nein, er ist nur nicht gestorben. Er, der Jüngste der Familie aus Zdunska Wola, versucht ein neues Leben in einem neuen Land. Manchmal gelingt es ihm – oft nicht. Er wird sieben Jahre in Bautzen sitzen, im Stasiknast. Zu Unrecht, wie man ihm in den 70ern schwarz auf weiß bescheinigt. Seine Seele hat das nicht mehr erreicht. Die war spätestens seit Auschwitz zerstört.

Die Geschichten der Überlebenden gleichen sich, die der Kinder dieser Menschen wahrscheinlich auch. Ich werde später meinem heute fünf Jahre alten Enkel erzählen, dass meine ersten Geschwister nur zwei und vier Jahre alt werden durften. Und dass meine Vornamen ein Gedenken an die Schwester seines Urgroßvaters und an dessen erste Frau sind.

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