Wenn Chaim Itzkin und Sholom Kass an ihre Erlebnisse in der Gedenk- und Bildungsstätte »Haus der Wannsee-Konferenz« zurückdenken, bekommen sie immer noch eine Gänsehaut. Eigentlich waren die beiden jungen Rabbiner aus dem amerikanischen Pennsylvania und dem kanadischen Ontario im Rahmen des von Chabad Lubawitsch organisierten »Rabbinical Student Visitation Programs« mit einer Idee nach Deutschland gekommen. Sie wollten das Buch »Tanya« in allen Städten drucken lassen, die sie bereisten und es Juden zur Verfügung stellen. Das von Rabbiner Schneor Salman verfasste und 1796 erschienene Werk gilt als das philosophische Hauptwerk der Chabad-Bewegung. Doch dann erlebten Chaim und Sholom diesen einen Augenblick, wie man ihn nur aus Filmen zu kennen glaubt.
Momente Als sie an ihrem freien Tag die Villa am Wannsee betreten, in dem die Nazis fast sieben Jahrzehnte zuvor die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen hatten, treffen sie eine etwa 30-köpfige Reisegruppe aus Israel. Nur kurz begegnen sich ihre Blicke und sofort beginnen die Rabbiner und die israelischen Touristen unisono das »Schma Jisrael« zu sprechen. »Hätten Chaim und ich jemals Zweifel an dem Sinn unserer Deutschlandreise gehabt, hätten sich diese spätestens in diesem Moment verflüchtigt«, sagt Sholom. Und Chaim, dessen Vorfahren während der Schoa zu großen Teilen ermordet worden war, ergänzt: »Allein für diesen einen Moment hätte sich unsere Reise gelohnt.«
Leipzig, Chemnitz, Magdeburg, Halle, Schwerin, Rostock, Berlin, Wismar und Dessau heißen ihre Stationen während ihres sechswöchigen Deutschlandaufenthalts. Seit 1984 gibt es das Programm der »Roving Rabbis«. Der damalige Lubawitscher Rebbe Menachem M. Schneerson hatte es initiiert, um das Buch »Tanya« jedem Juden auf der Welt zugänglich zu machen. Dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, sei ihnen sehr wichtig, sagt Sholom. »Insbesondere in Deutschland, wo Nazis Millionen jüdische Bücher vernichteten«, ergänzt Chaim.
Wiederbelebung Ihr Antrieb ist der Gedanke, dass durch Gott alles in der Welt mit gutem Grund geschieht. »Alles, was wir tun, hinterlässt Spuren in der Welt. Dazu gehöre auch«, so Chaim, »anderen Juden bei ihrem Wunsch, ein bewusstes jüdisches Leben zu führen, behilflich zu sein.« Dafür besuchen sie vor allem Dörfer und kleine Städte, in denen es keine jüdische Infrastruktur gibt. Das Bedürfnis nach jüdischen Angeboten sei bei vielen russischstämmigen Juden in Deutschland vorhanden, sind Chaim und Sholom überzeugt. »Nachdem es in der ehemaligen Sowjetunion gefährlich war, jüdisch zu leben, wollen zumeist ältere Zuwanderer heute wissen, was Jüdischkeit genau ist.«
Bei ihren Reisen in die verschiedenen Städte gehen Chaim und Sholom mehr oder weniger ohne Plan vor. Ihre positiven Erlebnisse scheinen ihnen recht zu geben. Eine Begebenheit hat sie besonders beeindruckt. Durch einen Irrtum landeten Chaim und Sholom auf der Suche nach einer Druckerei in einem Geschäft, das Autoschilder stanzt. Ob Zufall oder gottgewollt – dort trafen sie einen älteren Juden, der die beiden Rabbiner schon von Weitem mit »Schalom« begrüßte, als habe er schon seit Jahren auf sie gewartet. »Der Mann sagte uns, dass er sich noch daran erinnere, wie sein Vater Tefillin legte, doch habe er ihm wegen des Krieges nie erklären können, was es bedeute«, erklärt Chaim. Mit über 80 Jahren habe der Mann unter ihrer Anleitung zum ersten Mal in seinem Leben die Tefillin gelegt und das »Schma Jisrael« rezitiert. Für den Mann sei es so gewesen, sagt Sholom, als habe sich der Kreis seines Lebens geschlossen.