Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. So heißt eine alte Redensart. Sie gilt in besonderem Maße für Shimon Walles. Schon sein Großvater hat als Kantor gearbeitet. Der 31-jährige Australier ist der neue Chasan in der Synagoge Chabad Lubawitsch in der Münsterschen Straße in Wilmersdorf. Ein Glücksfall für Berlin. Denn dieser junge Mann hat eine herausragende Stimme. Mit einer neuen CD im Gepäck ist er vor einem Vierteljahr an die Spree gezogen.
Walles kommt aus Melbourne, wohin es die Familie mütterlicherseits verschlagen hatte. Der Vater wollte nach der Schoa nach Israel auswandern, doch dann musste er miterleben, wie erbarmungslos die Briten im Hafen von Cinecittà nahe Rom mit den ausreisewilligen Juden aus dem Auffanglager umgingen, in dem auch die Familie untergebracht war. So entschloss er sich kurzerhand, statt nach Palästina nach Australien zu ziehen. Dort wuchs Shimon Walles auf – in einem chassidischen, sehr entspannten Umfeld und in einem »liebenswerten Zuhause, in dem Musik eine große Rolle spielte«, sagt er.
Ungarn Zur Musik kam der dunkelhaarige Mann mit der sanften Stimme schon früh: »Mein musikalisch-kantorales Erbe kommt aus der Familie meines Vaters, die seit sieben Generationen in Jerusalem lebte und ursprünglich aus Ungarn stammt. Nicht nur mein Vater und Großvater waren Kantoren, sondern auch ein paar meiner Cousins. Einer davon zwei Jahre in der Synagoge in der Joachimsthaler Straße in Berlin.«
Schon als Kind hat Walles seinem Vater in der Synagoge geholfen. Und im Chor wurde er oft für die Solopartien ausgewählt. Mit 17, nach dem Stimmbruch, pausierte seine Gesangsausbildung für kurze Zeit, obwohl längst klar war, wohin seine berufliche Reise gehen würde. Noch während Shimon die »Schul« besuchte, spielte er in Bands wie den »Upbeats« oder »Grand Wazoo« auf Barmizwas und Hochzeiten.
CD-Produktion Dann lockte Jerusalem. »Australien und Melbourne ist wirklich eine Welt für sich. Es ist nicht nur ein anderes Land, es ist ein anderer Planet. Irgendwann hatte ich das Gefühl, als sei ich von der Zivilisation abgeschnitten«. Das war einer der Gründe, warum Walles Alija machte. Ein weiterer Grund war die Produktion seiner CD, die vor Kurzem erschienen ist. Sie heißt »Hashem Malach«.
Die zehn Lieder, bei denen der Kantor vom Israel Philharmonic Orchestra begleitet wird, stammen von einigen der berühmtesten Komponisten kantoraler Musik wie Avraham Fried oder Shlomo Carlebach. Und natürlich sind darauf auch ein paar von Walles’ musikalischen Vorbildern vertreten. Neben Mosche Koussevitzky auch Jossele Rosenblatt, den Walles über die Maßen verehrt: »Rosenblatt war ein Genie, eine Art Mozart der kantoralen Musik. Er hat über 400 Lieder geschrieben. Und er besaß eine wunderschöne Stimme und eine unvergleichliche Art und Weise, die Noten zu singen. Zu ihm habe ich mich zeitlebens hingezogen gefühlt.«
Mutter Dass Shimon Walles ausgerechnet in Deutschland gelandet ist, sieht er mit gemischten Gefühlen. Natürlich sei er mit der Schoa aufgewachsen, weil sie in seiner Familie allgegenwärtig ist. Seine Mutter habe die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als er ihr erzählte, dass er nach Berlin gehen werde. »Ich fühle, dass es eine emotionale Verbindung gibt zwischen mir und Deutschland, zwischen der deutschen Erde und mir.«
Das könne er mit dem Holocaust erklären, aber es ginge tiefer. Einer der großen Rabbiner habe einmal gesagt: »So wie viel Dunkelheit aus Deutschland gekommen ist, so hat es dort auch viel Licht gegeben.« Die jüdische Geschichte ist mit Deutschland eng verknüpft, so wie Deutschland mit der jüdischen Geschichte eng verknüpft ist.
Opernsänger Als paradox empfindet Shimon Walles auch sein Verhältnis zum neuen Wirkungsort Berlin. Die ehemalige Reichshauptstadt ist gleichzeitig der Ort, in der der Synagogenreformer Louis Lewandowski gewirkt hat. Der jüdische Komponist ist für den Australier ebenso Vorbild wie der Tenor Joseph Schmidt, der in Berlin Rundfunkgeschichte geschrieben hat.
Gleichzeitig war Schmidt einer der berühmtesten Kantoren seiner Zeit. Dabei könnten Kantoren, so Walles, immer auch als Operntenöre auftreten. Andersherum sei das allerdings nicht möglich, weil die Tenöre nicht gelernt hätten, ihren Gesang als intime Zwiesprache mit Gott zu formulieren. Shimon Walles wird von Chabad Lubawitsch zunächst für ein Jahr in Berlin eingesetzt.
Zukunft Was danach kommt, sei noch völlig offen. »Ich bin noch jung. Wir werden sehen, wohin mich das Leben spült. Und was Gott sonst noch so auf Lager hat«, sagt Walles. Zunächst steht die Arbeit in der Synagoge im Vordergrund. Und ein Auftritt am 22. Dezember, 19 Uhr, beim Louis-Lewandowski-Festival mit dem Ramatayim Men’s Choir aus Jerusalem im Saal der Empfänge in den Gärten der Welt (Eisenacher Straße 99, Berlin-Marzahn).
Auf dem Programm steht eine Reise durch die jüdische Musik mit traditionellen, israelischen, chassidischen und kantoralen Kompositionen. Ein weites Feld, das dort stimmlich durchschritten wird. Kein Problem für Shimon Walles.
Louis-Lewandowski-Festival
Vom 21. bis 23. Dezember findet bereits zum zweiten Mal das Louis-Lewandowksi-Festival in Berlin statt. Das Treffen verschiedener Chöre aus der ganzen Welt – darunter The Lewandowski Chorale aus Südafrika – steht ganz in der Tradition des Komponisten Lewandowski (1821–1894), der die Synagogalmusik nachhaltig reformierte.
Den Auftakt macht am 21. Dezember um 15 Uhr das Synagogalensemble Berlin unter der Leitung von Regina Yantian und Kantor Isaac Sheffer in der Synagoge Pestalozzistraße. Höhepunkt ist das Abschlusskonzert »7 Chöre von 3 Kontinenten« mit Werken von Sulzer, Lewandowski und Naumbourg in der Synagoge Rykestraße am 23. Dezember um 17 Uhr.
www.louis-lewandowski-festival.de