Im April 1945 ist Düsseldorf von alliierten Truppen umschlossen. Dem Kommandeur der städtischen Schutzpolizei, Franz Jürgens, ist klar: Nazi-Deutschland wird diesen Krieg verlieren. Um weiteres Blutvergießen zu verhindern, schließt er sich der Widerstandsgruppe »Aktion Rheinland« an, die die Stadt kampflos übergeben will. Ihr Unterfangen ist erfolgreich: Die Amerikaner ziehen am 17. April ohne größere Gegenwehr in Düsseldorf ein. Hunderte Tote konnten so vermutlich verhindert werden.
Für Jürgens kommt die Einnahme Düsseldorfs jedoch zu spät. Noch in der Nacht des Vortages werden er und weitere Mitglieder der »Aktion Rheinland« von Soldaten der Wehrmacht festgenommen und von einem Standgericht wegen Kriegsverrat zum Tode verurteilt. »Es lebe Deutschland!«, soll Jürgens gesagt haben, kurz bevor er auf dem Hof der Berufsschule an der Färberstraße erschossen wurde.
hinrichtung Auf demselben Gelände ist heute immer noch eine Schule. Sie heißt Franz-Jürgens-Berufskolleg. Am Ort der Hinrichtung erinnert eine Gedenktafel an die getöteten »pflichtbewussten Bürger«, die an dieser Stelle für die Befreiung Düsseldorfs »fielen«. Regelmäßig finden hier Gedenkveranstaltungen zu Ehren von Franz Jürgens und seiner Mitstreiter statt. Das Polizeipräsidium Düsseldorfs liegt am Jürgensplatz, benannt nach dem ehemaligen Kollegen.
War Franz Jürgens also ein Held, ein Vorbild? Die öffentlichen Würdigungen, die ihm in Düsseldorf zuteilwerden, erwecken einen solchen Eindruck. Gräbt man jedoch tiefer in der Vergangenheit des Polizei-Kommandeurs, gerät diese Vorstellung ins Wanken.
»Es ist unglaublich, dass es im Jahr 2023 immer noch möglich ist, einen Nazi-Schergen wie Franz Jürgens zu ehren«, findet Daniel Neumann. Er ist empört über den Umgang der Stadt Düsseldorf mit dem Andenken an den Polizeikommandeur, spricht von »Geschichtsklitterung«. Neumann ist der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Darmstadt – der Stadt, in der Jürgens vor seiner Zeit in Düsseldorf wirkte.
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Darmstadt nennt Jürgens einen »Nazi-Verbrecher«.
Bis Oktober 1944 leitete Franz Jürgens die Schutzpolizei in der südhessischen Stadt. Als die Deportation der Darmstädter Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager begann, erbat die für die Organisation verantwortliche Geheime Staatspolizei (Gestapo) Unterstützung von Jürgens: Er sollte ihm unterstellte Polizisten für die Durchführung der Transporte bereitstellen.
gesinnung Jürgens gehorchte. Ob aus nationalsozialistischer Überzeugung und einer antisemitischen Gesinnung heraus lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Fakt ist: Als leitender Polizist war er für den erfolgreichen Ablauf mehrerer »Judentransporte« mitverantwortlich – und damit für die Ermordung vieler Hundert Frauen, Männer und Kinder.
Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem hat die Deportationen, an denen Jürgens und seine Männer beteiligt waren, minutiös rekonstruiert. Ein Beispiel ist der Sonderzug »Da 84«, der am 30. September 1942 von Darmstadt ins Vernichtungslager Treblinka im heutigen Polen abfuhr. An Bord befanden sich 883 Juden, darunter einige Kleinkinder, das jüngste gerade ein Jahr alt.
Zwei Tage war der Zug unterwegs, bevor er in Treblinka ankam. Den überlieferten Quellen zufolge wurden die Insassen direkt nach der Ankunft ermordet. Der Mainzer Jude Michel Oppenheimer erinnerte sich nach dem Krieg: »Von diesem Polentransport hat nicht ein Einziger ein Wort nach Hessen berichtet.«
dankesschreiben Yad Vashem hat auch ein Dankesschreiben dokumentiert, das Franz Jürgens nach der durchgeführten Deportation mit Zug »Da 84« an seine Mitarbeiter adressierte. Auf der Website der Holocaust-Gedenkstätte heißt es: »Seine ausgesprochene Anerkennung für die ›Judenevakuierung‹ ist im Kommandobefehl zwischen ›Theaterdienst‹ und ›Hundezucht‹ aufgelistet.«
»Das Urteil im Fall von Franz Jürgens fällt eindeutig aus«, glaubt Daniel Neumann. Jürgens sei ein »Nazi-Verbrecher«, auch wenn sein später Widerstand gegen die NS-Herrschaft anerkennenswert sei. Beides ließe sich nicht miteinander verrechnen. Die öffentliche Würdigung, die dieser in Düsseldorf erfährt, konterkariere »alle gebetsmühlenartig wiederholten Bekenntnisse, sich der Geschichte stellen und Antisemitismus bekämpfen zu wollen«, so der Darmstädter Gemeindevorsitzende, der auch Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen ist.
Neumann weiter: »Wer eine Schule nach Nazis wie Franz Jürgens benennt, kann nicht glaubhaft behaupten, seine Schüler im Lichte von Prinzipien wie Menschenwürde, Wahrhaftigkeit und kritischer Auseinandersetzung mit der Geschichte zu bilden.«
behörden Den Düsseldorfer Behörden ist dieses Kapitel in der Geschichte Jürgensʼ durchaus bekannt. »Die Stadt Düsseldorf geht mit der schwierigen Biografie von Franz Jürgens seit vielen Jahren sehr offen um«, sagte ein Sprecher von Oberbürgermeister Stephan Keller (CDU) auf Anfrage. Daher werde »bei jeder Gedenkveranstaltung auf diesen Hintergrund kritisch eingegangen«.
Die Düsseldorfer Bürgermeisterin Klaudia Zepuntke (SPD) hielt dieses Jahr am Denkmal für die Hingerichteten der »Aktion Rheinland« eine Rede. Zepunkte erwähnt dabei, dass Jürgens »als Kommandeur der Schutzpolizei Darmstadt auch die Abordnung von Polizisten zur Begleitung der Deportationen zu verantworten« hatte. Doch unabhängig von ihrer Gesinnung hätten sich alle Gruppenmitglieder am Ende gegen das NS-Regime gewandt, so die Bürgermeisterin. »Für diese ganz konkrete, mutige Entscheidung gebührt ihnen unser Dank.«
Doch ist es deshalb auch richtig, Schulen und Plätze nach einem Mann zu benennen, der an einem Völkermord beteiligt war? Auf diese Frage ging die Stadt Düsseldorf auch nach mehrfacher Aufforderung nicht konkret ein.
stellungnahme Wie findet es die Leitung des Franz-Jürgens-Berufskollegs, dass ihre Schule nach diesem Mann benannt ist? Dort wollte man sich nicht äußern und verwies stattdessen auf die Stellungnahme der Stadt. Auf der Website der Schule findet sich kein Hinweis auf die Verstrickung Jürgensʼ in den Holocaust.
Ein Sprecher der Düsseldorfer Polizei sagte, man sei sich »der Ambivalenz, die der Personalie Franz Jürgens innewohnt, bewusst« und gehe »seit vielen Jahren transparent damit um«. Zu der Frage, ob Jürgens als Namensgeber für den Platz des Polizeipräsidiums wirklich geeignet sei, äußerte sich der Sprecher nicht.
»Mich wundert, dass die Stadt an der Ehrung von Jürgens festhält.«
ODED HOROWITz, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf
»Mich wundert, dass die Stadt an der Ehrung von Jürgens festhält«, sagte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Oded Horowitz, dieser Zeitung. Er findet, die Stadt solle »sich sehr genau damit befassen, ob bestimmte Persönlichkeiten mit einer NS-Vergangenheit als Beispiel dienen sollten, auch wenn sie später Gutes getan haben«.
Durch seine Beteiligung an den Deportationen hessischer Juden sei Jürgens als Person »nicht tragbar«, so Horowitz, der auch dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein vorsitzt. Der Stadt stünde es gut zu Gesicht, die Würdigung Jürgensʼ durch Benennung öffentlicher Einrichtungen und Plätze »aufzuarbeiten und entsprechend zu ändern«. Für Horowitz wäre das ein Zeichen, dass »der Kampf gegen Antisemitismus kein Lippenbekenntnis, sondern gelebte Realität ist«. Gleichzeitig betont er: »Dies ist nicht nur ein Düsseldorfer Problem, sondern kommt auch in vielen anderen deutschen Städten vor.«
Die Antisemitismusbeauftragte von Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, sagte auf Anfrage, Benennungen von Einrichtungen und Plätzen böten »kulturelle und gesellschaftspolitische Orientierungen«, Umbenennungen habe es immer wieder gegeben. »Eine kritische Auseinandersetzung mit den Namensgebern ist zwingend notwendig.« Derzeit kümmerten sich Experten um die Aufarbeitung von Jürgens‹ Biografie. »Nach Vorlage aller Fakten muss offen über Umbenennungen diskutiert und, falls erforderlich, diese schnellstmöglich umgesetzt werden«, so Leutheusser-Schnarrenberger.
Urteil Die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf erforscht die Geschichte der »Aktion Rheinland« und die Biografien ihrer Mitglieder. »Franz Jürgens ist problematisch«, sagt die Mitarbeiterin der Gedenkstätte Andrea Ditchen im Gespräch mit dieser Zeitung. Jürgens habe eine »solide Karriere« unter den Nazis gemacht und sei als »ausgezeichneter« Polizist gelobt worden. Er habe zwar nicht jede Gelegenheit genutzt, um in der Polizei aufzusteigen, »sich aber bis April 1945 auch nicht oppositionell gezeigt«, so Ditchen. Die Quellenlage über Jürgensʼ genaue Rolle bei den Darmstädter Deportationen sei schlecht. Aber: »Er hat sich der Ermordung nicht in den Weg gestellt hat«, ist Ditchen überzeugt.
Die Historikerin betont jedoch auch die Risiken, die Jürgens in seiner Düsseldorfer Zeit eingegangen ist: In den letzten Kriegswochen kritisierte er zunehmend offen die Kriegsführung der Nazis. Als ihm im April 1945 das Kommando über eine Kampfgruppe zu Verteidigung der Stadt angetragen wurde, lehnte Jürgens vehement ab. Ein abschließendes Urteil über Jürgensʼ Verdienste beziehungsweise seine Schuld wolle Ditchen nicht fällen. Die Forschung zu ihm sei noch nicht abgeschlossen. »Wir halten uns aber eine Neubewertung offen.«
Daniel Neumanns Fazit fällt dagegen eindeutig aus: Nach dem ehemaligen Polizeikommandeur sollten keine Plätze oder Schulen benannt werden. Er rät der Stadt Düsseldorf, »sich den historischen Fakten zu stellen und die Ehrung und Würdigung von Franz Jürgens schnellstmöglich zu beenden«.