Lesung

Der Fall Demjanjuk

Historikerin Angelika Benz Foto: Carina Baganz

Vom November 2009 bis Mai 2011 fand vor dem Landgericht München II der letzte große Prozess gegen einen NS-Kriegsverbrecher statt. John Demjanjuk war der Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen angeklagt, begangen 1943 im Vernichtungslager Sobibor in Polen. An über 90 Verhandlungstagen wurde – begleitet von enormer Medienresonanz – seine Schuld verhandelt.

Viele Journalisten fassten ihre Prozesseindrücke in Büchern zusammen. Der Zeit-Redakteur Heinrich Wefing etwa veröffentlichte Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess 2011 bei C. H. Beck, Rainer Volk vom Bayerischen Rundfunk wird im Oktober bei Oldenbourg seine Studie Das letzte Urteil. Die Medien und der Demjanjuk-Prozess vorlegen.

Henkersknecht Und auch die promovierte Historikerin Angelika Benz von der Berliner Humboldt-Universität veröffentlichte im vergangenen Jahr, kurz nach der Verurteilung Demjanjuks, ein Buch über den KZ-Aufseher – Der Henkersknecht. Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk in München. Dieses stellte Benz nun kürzlich im Gasteig vor. Eingeladen hatten der Verlag Dachauer Hefte, die Stadtbibliothek München, der Verein »Gegen Vergessen – Für Demokratie«, die Münchner Volkshochschule und der Metropol-Verlag.

In ihrer Einführung zitierte Barbara Distel den australischen Historiker Konrad Kwiet, wonach von geschätzten 500.000 NS-Tätern und 5.000 Täterinnen die meisten straffrei davon gekommen seien. Von 106.496 Ermittlungsverfahren zwischen 1945 und 1992 hätten nur 6.492 zu einer rechtskräftigen Verurteilung geführt – ein Skandal sondergleichen, wie Distel befand.

Angelika Benz interessierte der Fall des Handlangers Demjanjuk in seiner ganzen Komplexität, von der Feststellung seiner Identität, dem rechtsstaatlichen Auslieferungsverfahren bis hin zur Strategie des Angeklagten, sich als Opfer darzustellen. Bulletins über den Gesundheitszustand des ehemaligen »fremdvölkischen Hilfswilligen« und Befangenheitsanträge gegen das Gericht gehörten zur Routine.

Schwierigkeit Was spektakulär begann und endete, verlief »langatmig, zäh und schwierig«, erinnert sich Benz. Nur »ein Häufchen Unverdrossener« habe den Prozess bis zu dessen Ende verfolgt. Die Schwierigkeit sei gewesen, die juristischen, rechtsstaatlichen und moralischen Ansprüche voneinander zu trennen. »Befehlsnotstand« – dies sei das problematische Wort, mit dem NS-Täter wie Demjanjuk wiederholt Freisprüche für sich reklamierten.

Selten haben Historiker im wörtlichen Sinne so hautnah die Beschreibung von Schwerverbrechen und die verbalen wie nonverbalen Reaktionen vor Gericht protokolliert, wie es Benz in ihrem Buch tut. Ihr Ziel war es, »ein möglichst detailliertes Bild des Prozessablaufs zu zeichnen und dabei stets den historischen Kontext herzustellen – ergänzt um Szenen, die sich am Rande abspielten«. Dass der Angeklagte im Dienste der Deutschen verbrecherisch gehandelt hat, war schließlich unstreitig und führte zur Verurteilung.

Die zentrale Frage, was ihn dazu bewegt habe, für die Deutschen zu arbeiten, und wie ein sowjetischer Kriegsgefangener zum Gehilfen des nationalsozialistischen Völkermords werden konnte, wurde nicht direkt angesprochen. Benz gesteht, dass die Erwartungen an den Prozess vielleicht zu hoch waren – und schließt ihre Lesung mit der Erkenntnis, dass ein Gerichtssaal nicht zwingend der Ort sei, an dem Wahrheitsfindung stattfinde.

Berlin

Hommage an jiddische Broadway-Komponisten

Michael Alexander Willens lässt die Musik seiner Großväter während der »Internationalen Tage Jüdischer Musik und Kultur« erklingen

von Christine Schmitt  21.11.2024

Leo-Baeck-Preis

»Die größte Ehre«

BVB-Chef Hans-Joachim Watzke erhält die höchste Auszeichnung des Zentralrats der Juden

von Detlef David Kauschke  21.11.2024

Düsseldorf

Für Ausgleich und Verständnis

Der ehemalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet erhielt die Josef-Neuberger-Medaille

von Stefan Laurin  21.11.2024

Jubiläum

Religionen im Gespräch

Vor 75 Jahren wurde der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gegründet

von Claudia Irle-Utsch  21.11.2024

Engagement

Helfen macht glücklich

150 Aktionen, 3000 Freiwillige und jede Menge positive Erlebnisse. So war der Mitzvah Day

von Christine Schmitt  20.11.2024

Volkstrauertag

Verantwortung für die Menschlichkeit

Die Gemeinde gedachte in München der gefallenen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs

von Vivian Rosen  20.11.2024

München

»Lebt euer Leben. Feiert es!«

Michel Friedman sprach in der IKG über sein neues Buch – und den unbeugsamen Willen, den Herausforderungen seit dem 7. Oktober 2023 zu trotzen

von Luis Gruhler  20.11.2024

Aus einem Dutzend Ländern kamen über 100 Teilnehmer zum Shabbaton nach Frankfurt.

Frankfurt

Ein Jahr wie kein anderes

Was beschäftigt junge Jüdinnen und Juden in Europa 13 Monate nach dem 7. Oktober? Beim internationalen Schabbaton sprachen sie darüber. Wir waren mit dabei

von Joshua Schultheis  20.11.2024

Porträt

»Da gibt es kein ›Ja, aber‹«

Der Urgroßvater von Clara von Nathusius wurde hingerichtet, weil er am Attentat gegen Hitler beteiligt war. 80 Jahre später hat nun seine Urenkelin einen Preis für Zivilcourage und gegen Judenhass erhalten. Eine Begegnung

von Nina Schmedding  19.11.2024