Seit 1988 gibt es eine stete Zusammenarbeit zwischen dem Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und der Münchner Volkshochschule (MVHS). Dazu gehörte zuletzt die Ausrichtung einer Gesprächsrunde über »Das Experiment: Deutschland und die Demokratie« im Jüdischen Gemeindezentrum. Mit dem Schwerpunkt »Jüdisches Leben in Ost und West nach 1945« eröffnete sich ein weites Feld von Brüchen und Aufbauversuchen hüben und drüben.
Susanne May, Programmdirektorin der MVHS, räumte in ihrer Begrüßung einen blinden Fleck ein. Erst 2019 erfuhr sie, »dass nicht allein in Westdeutschland, sondern auch in der DDR antisemitische Denkmuster fortlebten und das Verhältnis der Staatsführung zu den Juden im Land zwischen repressivem Vorgehen und schlichter Ignoranz schwankte«.
bilanz Die Bilanz des selbst ernannten »antifaschistischen« Staats sei erschütternd, aber auch der Befund nach 30 Jahren Wiedervereinigung sei ambivalent. Denn einerseits gebe es »im Osten und im Westen Deutschlands wieder ein reiches jüdisches Leben«, und andererseits, so fuhr May fort, beobachte man mit Sorge, dass kaum ein Tag ohne antisemitische Vorfälle vergeht.
Also reichlich Stoff für eine Gesprächsrunde. An ihr nahm die Autorin und Netzkolumnistin Juna Grossmann, Jahrgang 1977, teil, die als Einzige der geladenen Gäste auf dem Podium in Ost-Berlin geboren wurde.
Mit ihr tauschten sich die Journalistin Annette Leo, 1948 in Düsseldorf geboren, doch nach der Übersiedlung der Eltern 1952 nach Ost-Berlin erst einmal in kommunistischer Familientradition aufgewachsen, der Historiker und Politologe Oren Osterer, dessen Eltern in Israel aufwuchsen und der in München über »Das Israelbild in Tageszeitungen der DDR« promovierte, sowie der Journalist Michael Wuliger aus.
Er wurde 1951 in London geboren, wuchs in Wiesbaden auf, kennt Berlin aus den 70er-Jahren und erlebt es seit 1990 kontinuierlich. Würden sich mehr an seinen 2009 veröffentlichten »koscheren Knigge« halten, um »trittsicher« deutsch-jüdische Fettnäpfchen zu vermeiden, hätte er nicht unerschöpflich Stoff für seine wöchentliche Kolumne »Wuligers Woche« in der Jüdischen Allgemeinen.
wiedervereinigung Durch das Dickicht der Zeitläufte lotste Moderatorin Ellen Presser ihre Gesprächspartner über vier Stationen: vom Blick zurück auf die unterschiedliche Situation in Ost und West vor 1989 über die Wahrnehmung der Wiedervereinigung aus jüdischer Sicht und die Auswirkungen der Zuwanderung bis zu einem Blick in die Zukunft.
Juna Grossmann schlug das in ihrer Familie geschlossene Kapitel Judentum wieder auf und positionierte sich klar mit ihrem Buch Schonzeit vorbei. Über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus. Annette Leo stieß 1986 zur Gruppe »Wir für uns«, in der Nachkommen aus jüdischen Familien ein Forum fanden.
Sie fühlt sich dem Verfolgungsschicksal ihrer beiden jüdischen Großväter verbunden, doch ihre Identität sei eher eine in einem Zwischenraum. Wuliger ist bis heute begeistert von der Zuwanderung, weil sie einer überalterten Gemeinschaft nicht nur demografisch guttat, sondern dank der ehemaligen Rotarmisten ein gewisses Kämpfertum mitbrachte. Oren Osterer führt diesen Gedanken weiter. Statt sich in eine Opferrolle zu begeben, brauche es Kämpfermentalität, um den aktuellen Anfeindungen zu begegnen. ikg